Hollisch verliebt
Sie wollte nie wieder gehen.
Sie glaubte, die Seelen leise weinen zu hören, beinahe wie Kinder. Erlebten sie nicht das Gleiche? Gebrüll durchdrang ihre Euphorie. Dünne Tentakel griffen nach ihr, packten sie mit überraschender Stärke und wollten sie fortzerren. Entschlossen stemmte sie sich dagegen. Ich bleibe hier!
Ein zweites Brüllen ertönte in ihrem Kopf, lauter, bedrohlicher. Es trieb ihr den kalten Schweiß aus den Poren …
Mit einem Mal wurde sie zurück in die Gegenwart gerissen. Ebenso schnell war es um ihre wohlige Ruhe geschehen. Nein. Nein, nein, nein!
Doch. Die Seelen redeten nicht mehr, sie schrien und weinten nicht, sie taten gar nichts, und mit der Ruhe war auch das Gefühl der Macht verschwunden. Und mehr noch, Scharfzahn war zurückgekehrt. Dieses Mal wollte er nicht, dass sie Aden wehtat.
Bislang hatte sie einfach nur einen scharfen Stich gespürt, wenn das Monster zu ihr zurückgekehrt war. Mehr nicht. Dann hatte es sie wieder verlassen. Und war zurückgekehrt. Dieser Kreis hatte sich endlos wiederholt, während sie und Aden immer wieder voneinander getrunken hatten. Aber dieses Mal war etwas anders. Sie spürte eine Kraft, eine Art Energie. Oder hatten sie den Kreislauf der Besessenheit endlich durchbrochen?
Scharfzahns Hunger verschmolz mit ihrem eigenen. Das Gefühl war vertraut, aber alles andere als willkommen, denn das Monster hinderte sie daran, etwas dagegen zu unternehmen. Das ließ Scharfzahn nie zu, nicht bei Aden.
Als Victoria die Augen öffnete, schnappte sie nach Luft. Sie hatte die Höhle nicht verlassen, aber sie war nicht untätig gewesen. Sie stand aufrecht da, mit ausgebreiteten Armen. Von ihren Fingern ging ein goldenes Strahlen aus, das abnahm und verglühte. Aden lag zusammengesunken an der gegenüberliegenden Höhlenwand. Er war bewusstlos, rührte sich nicht, vielleicht war er sogar … Nein. Nein!
Barfuß rannte sie zu ihm. Als sie ihn erreichte, fühlte sie sofort nach seinem Puls. Nein, nein, nein. Bitte nicht! Da! Schnell, fast zu schnell und äußerst schwach, aber der Puls war da. Aden lebte.
Erleichterung durchströmte sie, gefolgt von heftigen Gewissensbissen. Was hatte sie ihm angetan? Ihn geschlagen? Von ihm getrunken? Nein, das konnte nicht sein. Scharfzahn hätte das nicht zugelassen. Oder?
„Ach Aden.“ Sie strich ihm das Haar aus der Stirn. Sie fand weder Prellungen auf seinem Gesicht noch Bisswunden an seinem Hals. „Was ist nur mit dir?“
Ein Geräusch drang an ihr Ohr. Stirnrunzelnd beugte sie sich hinunter. War das … ein Summen? Sie blinzelte und hörte genauer hin. Ja, tatsächlich. Wenn er summte, hatte er doch sicher keine Schmerzen, oder? Offenbar durchlebte er eine Art Glücksgefühl. Vielleicht genau wie sie gerade. Oder?
Dir darf nichts passiert sein, bitte.
Sie musterte ihn genauer. Sein Gesichtsausdruck wirkte gelassen, die Mundwinkel waren gekräuselt. Er sah jungenhaft aus, unschuldig, beinahe wie ein Engel. Also erlebte er tatsächlich die gleiche Euphorie wie sie.
Beruhigt fuhr sie mit einer Fingerspitze seinen Haaransatz entlang. Er war so schön mit seinen schwarz gefärbten Haaren und dem breiten blonden Ansatz, den perfekt geschwungenen Augenbrauen über den bildschönen, leicht schrägen Augen und der geraden Nase. Seine Lippen waren sanft, sein Kinn kräftig. Und ebenfalls perfekt. An einem solchen Gesicht konnte sich ein Mädchen gar nicht sattsehen. Vielleicht weil jeder Blick eine neue Facette offenbarte. Dieses Mal waren es seine langen dichten Wimpern, die im Halbdunkel der Höhle goldbraun schimmerten.
„Wach auf, Aden. Bitte.“
Nichts, keine Reaktion.
Vielleicht wollte er einfach an jenem Ort bleiben, genau wie sie. Tja, dann hatte er Pech. Sie hatten einiges zu bereden.
„Aden. Aden, wach auf.“
Wieder nichts. Nein, nicht ganz. Ein Stirnrunzeln, das sich zu einer Grimasse auswuchs.
Ihr Herz hämmerte wie wild. Na gut. Und wenn er nicht sorglos auf Wolken schwebte? Wenn er irgendwo festhing? Oder, schlimmer noch, Schmerzen hatte? Diese Grimasse …
Sein Atem ging flach und rasselnd, einmal, zweimal. Dieses Rasseln hatte sie früher schon gehört – jedes Mal wenn sie zu viel Blut von einem Menschen getrunken hatte.
Er stirbt nicht. Er darf nicht sterben. Seit einer Woche waren sie hier. Sieben Tage, drei Stunden und achtzehn Minuten. Die ganze Zeit über hatten sie gekämpft, sich geküsst und voneinander getrunken. Aden hatte alles überlebt, also würde er auch das hier überleben.
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