Hollisch verliebt
anzusehen, mit ihm zu sprechen oder seine Existenz auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Ihr werter Herr Vater wollte nicht, dass sein einziger Sohn von seinen „verweichlichten“ Töchtern verdorben wurde. Als sie und Aden sich kennenlernten und er nach ihren Geschwistern fragte, hatte sie ihm überhaupt nur von ihren Schwestern erzählt. Den letzten Neuigkeiten zufolge, die ihr zu Ohren gekommen waren, führte Sorin zurzeit eine halbe Armee von Vampiren durch Europa, um Bloody Mary in Schach zu halten, die Anführerin der schottischen Vampirsippe. Unterm Strich zählte ihr Bruder also nicht.
Außerdem hatte Vlad schon vor langer Zeit Riley mit Victorias Schutz beauftragt, und der Gestaltwandler nahm seine Aufgabe sehr ernst. Nicht nur aus Pflichtgefühl oder aus Angst vor Folter und Tod, falls er versagte, sondern weil er sie mochte. Zuallererst waren sie Freunde, alles andere war zweitrangig.
„Warum bist du überhaupt hier?“, fragte sie, ohne auf seine Aufforderung einzugehen. Wieder mal.
„Meine Brüder haben mich aufgespürt und mir erzählt, du seist völlig abgedreht. Der Schreck hat mich bestimmt zweihundert Jahre meines Lebens gekostet. Aber genug von mir.“ Riley wich zurück und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände, sodass sie ihn ansehen musste. „Hast du anständig getrunken? Du siehst beschissen aus.“
Seine Sorge – sogar seine Beleidigung – taten ihr unglaublich gut und waren so herrlich typisch für ihn, dass sie sagte, was er hören wollte: „Ja, Papa, ich habe getrunken.“ Was auch stimmte. Fünf Minuten, nachdem sie zu Hause angekommen waren und Aden sie in ihr Bett verfrachtet hatte, hatte sie schon die Fangzähne in einen der Blutsklaven geschlagen, die in der Villa wohnten.
Sie war so durstig gewesen, dass sie dem Menschen fast das ganze Blut ausgesaugt hätte. Ihre Schwester Lauren hatte sie gerade noch rechtzeitig zurückreißen können. Stephanie, ihre andere Schwester, hatte ihreinen zweiten Menschen besorgt und dann einen dritten und vierten, und Victoria hatte getrunken, bis ihr Magen nicht mehr fassen konnte.
„So kommst du mir also.“ Rileys Mundwinkel zuckten. „Wann hast du denn Sarkasmus gelernt?“
„Weiß ich nicht mehr.“ Sie wusste nur, dass sie die Wahl hatte. Entweder ihre Situation mit Humor angehen oder in ihrem Elend ertrinken. „Vielleicht vor zwei Wochen.“
Als sie über die Zeit sprach, wurde Rileys amüsierte Miene von einem finsteren Stirnrunzeln vertrieben.
Diese Wirkung hatte bei ihm nur ein Thema. Mary Ann Gray. In der Nacht, in der Aden mit dem Messer angegriffen wurde, war sie allein von zu Hause weggegangen. Der verliebte Werwolf Riley war ihr gefolgt, um sie zu beschützen – ohne auf die Gefahr für sich selbst zu achten.
„Wo ist dein Mensch?“ Moment, Mary Ann war ja gar nicht mehr ganz menschlich. Sie hatte sich zur Kraftdiebin entwickelt – was Victoria nicht hatte kommen sehen. Mary Ann konnte nicht nur Hexen ihre Magie stehlen, sondern auch Vampiren ihre Monster, den Elfen ihre Macht und Wölfen die Fähigkeit, sich zu verwandeln.
Victoria fragte sich, ob Mary Ann überhaupt je ganz menschlich gewesen war. Elfen waren schließlich auch Kraftdiebe. Der Unterschied war nur, dass diese ihren Hunger kontrollieren konnten. Mary Ann konnte das nicht. Trotzdem warf das eine erschreckende Frage auf: War Mary Ann vielleicht ein Mischwesen aus Mensch und Elfe?
Von einer solchen Mischung hatte Victoria zwar noch nie gehört, doch in der letzten Zeit war ihr klar geworden, dass nichts unmöglich war. Falls Mary Ann tatsächlich eine Art Schimäre war, würde jeder Vampir und Gestaltwandler im Haus – natürlich abgesehen von Riley – ihren Tod wollen. Elfen waren die größten Feinde, eine enorme Gefahr. Sie bedrohten die gesamte Anderwelt.
„Und?“, hakte Victoria nach, als Riley nicht reagierte.
„Ich habe sie aus den Augen verloren.“ Der zuckende Muskel unter seinem Auge verriet, wie aufgewühlt er war.
„Moment mal. Du als erfahrener Fährtenleser hast dich von einer Teenagerin abhängen lassen, die sich nicht mal verstecken könnte, wenn sie unsichtbar wäre?“ Scheinbar steckte in Mary Ann doch mehr, als man ihr ansah.
Das Zucken wanderte zu Rileys Kiefermuskel. „Ja.“
„Du solltest dich schämen.“
„Ich will nicht darüber reden“, sagte er. „Sondern über dich. Wie geht es dir? Und zwar ganz im Ernst.“
„Es geht mir gut.“
„Na schön. Ich tue mal so, als würde ich das glauben. Hast du
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