Holly greift nach den Sternen
öffnete die Tür. »Du solltest das Leben mehr genießen«, riet er.
Hastig und wenig würdevoll kletterte Holly aus dem Auto. Das Taxi setzte sich bereits in Bewegung.
»Ich genieße das Leben«, widersprach sie. »Ich bin praktisch high vor lauter Leben.«
Aber sie redete mit dem Wind, der ihre Worte aufhob und in die Nacht trug, während das Taxi davonbrauste.
29
M r Chow Chow kratzte von innen an der Tür, als Holly aufschloss, und obwohl sie sich sehr danach sehnte, sich bei einer Tasse Kamillentee die Seele aus dem Leib zu heulen - die Bedürfnisse ihres Hundes kamen an erster Stelle. Manchmal hatte man es als Hundebesitzerin nicht leicht.
Holly wanderte um den Häuserblock und wartete geduldig mit ihrer Plastiktüte, während Mr Chow Chow verschiedene Bäume und Laternenpfähle beschnüffelte.
Schließlich war sie wieder in der Wohnung und wollte es sich mit ihrem Kräutertee und einer Reiswaffel auf dem Sofa gemütlich machen, aber blöderweise klappte es mit dem Heulen nicht. Weinen war offensichtlich wie Champagner, je mehr man davon kostete, desto unersättlicher wurde man. Sie hatte fast schon die Stufe erreicht, wo sie möglicherweise in eine Entzugsklinik musste, um ihre Heulsucht in den Griff zu kriegen. Mittlerweile musste sie schon zu ziemlich extremen Methoden greifen, zum Beispiel schaute sie sich die Vater-Sterbeszene in König der Löwen an.
Sobald das große Jammern unter den Tieren begann, öffneten sich bei Holly die Schleusen, und sie konnte gar nicht mehr mit dem Heulen aufhören.
Mr Chow Chow sah erschrocken hoch, als sie einen erstickten Schluchzer ausstieß und sich zwischen die Kissen warf. Holly hatte zwar nach der Verhaftung ihres Vaters kein einziges Tränchen zerdrückt, aber sie konnte sich gut vorstellen, wie man einen geliebten Vater betrauerte.
Es dauerte eine Weile, bis die Türklingel durch ihre Selbstmitleidsorgie drang. Holly wollte nicht an die Tür gehen, aber wer auch immer um - hallo-o! - halb zwei Uhr morgens gekommen war, ließ offensichtlich die Klingel nicht mehr los.
Holly schlurfte murrend in den Flur und schloss die Tür auf.
»Was soll das so spät...?«, brachte sie wegen der Tränen kaum verständlich hervor. Aber da stand keine ihrer Mitbewohnerinnen, sondern ein zerknirschter Reed.
»Ich wusste, dass es dir nicht gut geht«, sagte er heiser, und bevor Holly ihm klarmachen konnte, dass dies nicht das alte »Nicht-gut-Gehen«, sondern ein neues »Nicht-gut-Gehen« war, machte er die zwei Schritte nach vorn und schloss sie in die Arme, während sie verwirrt weiterschluchzte.
Eigentlich hätte man es sogar ein Kuscheln nennen können, Holly war sich da nicht sicher. Aber das Flüstern und Streicheln bedeutete wohl mehr als nur eine einfache Umarmung.
»Ist schon gut«, schnurrte Reed in ihr Ohr und führte sie zurück ins Wohnzimmer. »Ich bin ja da.«
Und er war wirklich da, denn auf einmal lag ihr Kopf in seinem Schoß. Eigentlich hätte sie sich wehren sollen, aber als sie ihre Beine über die Armlehne hängte, war es sehr gemütlich, und als sie die Wange an seine Brust schmiegte, hörte sie seinen gleichmäßigen Herzschlag, während er mit den Fingerspitzen ihre Tränen wegwischte.
Sie wollte ihn fragen, warum er gekommen war. Und sie hätte gern den DVD-Player ausgeschaltet, bevor Reed merkte, dass sie einen hochsentimentalen Disney-Film glotzte. Aber es war viel einfacher, sich noch enger an ihn zu kuscheln, bis er sie mit beiden Armen fest umschlungen hielt, damit niemand an sie herankam. Schließlich hätte dieser Jemand erst durch Reed hindurchgemusst.
»Warum siehst du dir König der Löwen an?«, fragte er schließlich und schaute über ihren Kopf, weil gerade Hakuna Matata erklang.
Holly machte »Hmmmmm«, als ob sie mit dem Einlegen der DVD gar nichts zu tun gehabt hätte. »Der war schon an und ich konnte ihn nicht abstellen.«
»Disney-Filme sind hochinteressant. König der Löwen , Bambi und sogar das Dschungelbuch basieren auf einer Art umgedrehter freudianischer Entbehrungsproblematik, mit dem abwesenden Elternteil und der allgegenwärtigen Ersatzvaterfigur...«
Reeds Stimme war ein angenehmes melodisches Summen. Holly schloss die Augen, damit sie sich auf seine Stimmlage konzentrieren konnte. Was er im Einzelnen sagte, war ihr total egal, dann schlief sie ein.
»Du bist wach«, sagte dieselbe Stimme, und Holly drehte sich um und starrte Reed direkt in die Augen.
Auf ihrem Bett.
In einer - wie die Klatschblätter
Weitere Kostenlose Bücher