Holst, Evelyn
und hörte selbst, wie verkrampft sie klang.
„Ist das eine ernst gemeinte Frage?“, seine Stimme klang nicht unfreundlich, aber sie fühlte sich trotzdem angegriffen. „Soll ich vorbeikommen?“, sie bemühte sich, ihn ihre Angestrengtheit nicht fühlen zu lassen, sie hatte absolut kein Recht darauf, jetzt schwierig zu sein. Leonie hat nicht gefragt, ob sie vorbeikommen soll, dachte er, sie hat sich einfach an mein Bett gesetzt und meine Hand gehalten. Und ganz erstaunt spürte er plötzlich eine Wärme in sich und eine Zärtlichkeit, die ihn vergessen ließ, dass er bewegungslos in einem Krankenhausbett lag, mit ungewisser Zukunft und zerschmetterten Träumen. „Du musst nicht vorbeikommen“, sagte er und glaubte, am anderen Ende des Telefonkabels ein leichtes Ausatmen der Erleichterung zu hören. „Gut, dann komm ich morgen“, sagte Marion. „Ich wünsche dir eine gute Nacht.“
Sie legten beide auf und starrten beide vor sich hin. In ihnen waren eine große Leere und eine noch größere Traurigkeit.
„Sag mal, was ist denn los mit dir?“, Marius legte seine Gabel hin, um die er gerade eine Unmenge Spaghettis gerollt und dann fachmännisch in seinen weit aufgerissenen Mund geschoben hatte. „Du wirkst, als hättest du deinen Wohnsitz vorübergehend auf eine Wolke verlegt.“ Das stimmt, hätte Leonie ihm beinahe zugestimmt, auf Wolke Sieben. Wenn sie an Hendrik dachte, dann fühlte sie Schmetterlinge im Bauch. Dann hüpfte ihr Herz wie ein verliebter Pingpongball.
Wie warm seine Hand gewesen war, wie schön seine Augen geleuchtet hatten! Es war so eine verrückte, kaputte, schöne, verzweifelte Situation, dass sie sie niemandem erklären konnte. Auch Marius nicht, der sie jetzt mit leicht schief geneigtem Kopf ansah und auf eine Antwort wartete. „Wie war’s überhaupt im Krankenhaus?“, fragte Marius weiter und kippte Luna und Malte, die stumm und fröhlich schmatzend vor ihren Tellern saßen, eine Handvoll geraspelten Parmesankäse auf die Restnudeln. „Alles in Ordnung“, murmelte sie und es war ihr klar, dass dies die Lüge des Jahrtausends war, nichts war klar, im Gegenteil, unklarer war eine Situation kaum denkbar. „Der Gips muss noch drei Wochen dranbleiben.“
Leonie schob ihren noch halbvollen Teller von sich, sie konnte im Augenblick einfach keinen Bissen mehr herunterbringen. Sie wollte allein sein, romantische Musik hören und an ihn denken. Sie wollte wieder an seinem Bett sitzen und ihm alles beichten und er sollte sie anlächeln und ihr sagen, dass alles gut würde.
„Geht’s dir nicht gut?“, Marius sah sie besorgt an und auch die beiden Kinder hatten mit Essen aufgehört. „Mami, du bist so blass wie eine Wolke“, sagte Luna. „Musst du etwa kotzen? Dann hol ich dir lieber einen Eimer?“, Leonie zwang ein Lächeln in ihr Gesicht, das sie Mühe kostete.
„Ich glaub, ich muss einfach nur ins Bett“, sagte sie. „Kann Luna heute Nacht bei euch schlafen?“ Die Kinder kreischten noch vor Glück, als Marius Leonie zur Tür brachte. „Ich mach mir Sorgen um dich“, sagte er nur, beugte sich vor und küsste sie leicht auf die Wange. „Pass auf dich auf.“
Als sie kurz darauf in ihrem Bett lag, war ihre Sehnsucht so groß, dass sie nicht auszuhalten war. Sie griff zum Telefon und wählte. Er war sofort am Apparat. „Ich wollte nur ...“, fing sie an und konnte nicht weiterreden, weil ihre Stimme zu sehr zitterte. „Ich auch“, sagte er nur. Und dann lächelten sie beide stumm in den Hörer und legten wieder auf.
Ich bin verliebt wie noch nie in meinem Leben, dachte Leonie. In einen Mann, den ich zum Krüppel gefahren habe und den ich jetzt von vorn bis hinten anlüge. Bin ich denn völlig verrückt geworden? Ja, flüsterte sie.
19. Kapitel
„Alles ganz wunderbar verheilt“, Dr. Melderis hatte den Gips entfernt und musterte Leonies gerötetes, schmal geschrumpftes Bein. „Bitte jetzt einmal auftreten und wenn’s geht ein paar Schritte ...“ Sie hatte sich bereits erhoben und wollte gerade losgehen, als sie auf ihrem Stuhl wieder zusammenknickte. Der Arzt lachte, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck sah: „So geht’s den meisten“, sagte er. „Es wird noch ein bisschen dauern, bis Sie wieder ganz die Alte sind. Probieren Sie es noch einmal, aber diesmal bitte ganz vorsichtig.“
Beim dritten Anlauf hatte sie es geschafft. Sie konnte wieder gehen, langsam zwar und vorsichtig, aber ohne umzufallen. „Am besten laufen Sie noch ein bisschen die
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