Holst, Evelyn
dass sie beunruhigt war. „Gleich morgen gehst du zum Arzt“, sagte er streng. „Es reicht, wenn einer in der Familie im Bett liegt.“ „In Ordnung“, meinte sie sanft und etwas erschöpft und griff in ihre Handtasche. „Ich hab dir deine Post mitgebracht. Zum Glück sind keine Rechnungen dabei.“
Und dann wussten sie beide nicht mehr, worüber sie miteinander reden sollten. Die Stille lastete wie ein Stein zwischen ihnen, schwer, unbeweglich, kalt. „Was sagt der Arzt?“, meinte sie schließlich. „Wann kommst du in die Rehaklinik?“ „In einer Woche vermutlich“, meinte er, „und die Ärzte wissen auch nichts Konkretes. Wir müssen Geduld haben.“
Sie war so nervös, dass sie gern eine Zigarette geraucht hätte, und sie ahnte, dass Hendrik ihr ansah, wie angespannt sie war. „Ich hab nichts dagegen, wenn du eine rauchst“, sagte er plötzlich und lächelte sie an und den Bruchteil einer Sekunde war er der Hendrik von früher, der strahlende, charmante Mann, um den sie andere Frauen immer beneidet hatten. „Ich könnte das Fenster ein bisschen aufmachen“, zögernd griff sie in ihre Tasche und holte eine Packung Zigaretten heraus. „Mach schon“, sagte er. „Ich verpetz dich nicht.“ Sie lächelten sich zu, zwei Komplizen, die sich auf einmal einander sehr nahe fühlten. „Wenn ich erwischt werde ...“, aber sie hatte die Klappe des Doppelfensters bereits geöffnet und blies den ersten Rauchkringel in den Krankenhauspark.
Als sie eine Viertelstunde später wieder ging, schlug er den Gedichtband wieder auf. Sein Lieblingsgedicht hatte er mit einem roten Filzstift markiert.
Trennung
Der erste Tag war leicht
der zweite Tag war schwerer
Der dritte Tag war schwerer als der zweite
Von Tag zu Tag schwerer:
Der siebente Tag war so schwer
dass es schien er sei nicht zu ertragen
Nach diesem siebenten Tag
sehne ich mich
schon zurück.
Leise kamen die Liebesworte von seinen Lippen, als die Tür aufgerissen wurde und die Nachtschwester mit dem Abendessen hereinkam.
„Wie riecht es denn hier?“, fragte sie streng. „Haben Sie etwa geraucht? Sie wissen doch, dass das streng verboten ist.“
Hendrik lächelte. „Nein“, sagte er wahrheitsgemäß. „Ich habe Liebesgedichte gelesen. Ist das auch verboten?“ „Nein“, lächelte die Schwester zurück. „Das ist überhaupt nicht verboten. Das ist wunderschön.“
20. Kapitel
„Haben Sie keinen Appetit?“, Uschis Stimme klang besorgt, als sie den Teller, auf dem beide Spiegeleier noch völlig unberührt waren, wieder wegräumte. „Fühlen Sie sich nicht gut? Kann ich Ihnen etwas anderes bringen?“ Marion von Lehsten schüttelte den Kopf. „Nein danke, Uschi, ich möchte nichts. Vielleicht noch einen Tee.“
Die Haushälterin entschwand und Marion holte tief Luft, um die Welle der Übelkeit, die sie durchrollte wie eine dunkle böse Woge, zu unterdrücken. Aber es gelang ihr nicht, so speiübel wurde ihr plötzlich, dass sie wie blind zum Badezimmer stürzte und sich gerade noch rechtzeitig über das Toilettenbecken werfen konnte, bevor sich ihr Magen umstülpte. Was ist bloß los mit mir, dachte sie und überlegte, was sie in den letzten Tagen gegessen haben konnte. Der Fisch gestern Abend, den sie allein in einem kleinen Restaurant am Hafen gegessen hatte? Aber eine Lebensmittelvergiftung hätte sie doch sicher schon früher gemerkt. Der Magendarmvirus, der gerade grassierte?
„Frau von Lehsten, um Himmels willen!“, die Haushälterin stand neben ihr und hielt ihr ein Glas Wasser hin. „Hier, trinken Sie.“ Marion fühlte sich so schwach, dass sie kaum ihren Kopf heben konnte, ihre Lippen zitterten, als sie das Glas berührten. Vorsichtig trank sie einen Schluck und musste sich sofort wieder übergeben. „Ich hole einen Arzt“, sagte die Haushälterin energisch, „und Sie legen sich solange wieder ins Bett, bis er kommt. Keine Widerrede, Frau von Lehsten“, mit diesen Worten griff sie zum Telefon und rief den Hausarzt Dr. Wöhler an.
„Sicher nichts Schlimmes“, murmelte Marion, die sich wieder hingelegt und ihre Augen geschlossen hatte. „Die ganze Aufregung der letzten Zeit hat mir ...“, und dann war sie eingeschlafen.
Sie erwachte wieder, als Dr. Wöhler an ihrem Bett saß und ihren Puls fühlte. „60 zu 90, ziemlich niedrig“, meinte er. „Wie mir Ihre Haushälterin erzählte, ist Ihnen heute Morgen übel geworden. Kommt das häufiger vor?“
„In den letzten Tagen ja“, musste Marion zugeben. „Sonst
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