Holst, Evelyn
„Guten Morgen“, ihre Fröhlichkeit war so forciert, dass sie für alle spürbar war und ihm richtig wehtat. Dr. Melderis fühlte tiefes Mitleid, als er sah, wie blass und mühsam beherrscht sie sich zu ihrem Mann hinunterbeugte und ihn auf die Stirn küsste. Es kam dem Arzt so vor, als zögere sie den Bruchteil einer Sekunde, bevor ihre Lippen sein Gesicht berührten, als wende sie ihres kurz ab, bevor sie sich zu einem Lächeln zwang, das ihre Augen nicht erreichte. Sie liebt ihn nicht mehr, wusste er plötzlich mit absoluter Klarheit, sie hat ihn schon vorher nicht geliebt. Auch das noch, dachte er in einem Anflug von Ärger, irgendwelche läppischen Ehegeschichten, die sie ihm nicht verzeihen kann. „Ich erkläre Ihrem Mann gerade ...“
„Er erklärt mir hoffentlich, wann ich wieder zuhause bin, mein Schatz“, unterbrach Hendrik und sah den Arzt durchdringend an. „Also, legen Sie los. Was machen Sie noch alles mit mir und wann ist der ganze Spuk vorbei?“
Dr. Melderis und Marion von Lehsten sahen sich an. „So schnell geht das leider nicht“, der Arzt zwang Festigkeit in seine Stimme und fuhr fort: „Sie haben eine Einblutung im Rückenmark, hervorgerufen durch den Aufprall Ihres Wagens, und das ist eine gute und gleichzeitig eine schlechte Nachricht.“ „Die schlechte zuerst“, forderte Hendrik und griff nach der Hand seiner Frau. Sie war eiskalt, ihre Augen tiefe, traurige Höhlen. Was hat sie bloß, schoss es ihm kurz durch den Kopf, ich bin es doch, der hier liegt, ihr Leben ist doch unverändert. „Die schlechte Nachricht ist, dass diese Einblutung neurologische Konsequenzen hat. Sie befindet sich im fünften Rückenwirbel, Sie werden sich also von der Taille abwärts nicht mehr bewegen können.“
Unwillkürlich hielt der Arzt die Luft an. Es waren schreckliche Worte, und dass er sie schon so oft hatte sagen müssen, machte sie nicht weniger schrecklich. „Und die gute?“, fragte Hendrik beherrscht. „Wenn die Einblutung aufhört, dann haben wir gute Heilungschancen.“ „Wir?“, fragte Hendrik ärgerlich. „Was heißt ‚wir’? Ich bin doch hier der Krüppel, nicht Sie.“ Er versuchte sich aufzurichten, schaffte es nicht. Fluchend sank er ins Bett zurück. „Wie hoch sind die Chancen, dass die Einblutung zurückgeht?“, fragte Marion, die sich vom Bett erhoben hatte und ruhelos auf und abging. So minimal, dass wir nur auf ein Wunder hoffen können, dachte Dr. Melderis und sagte: „Groß genug, um optimistisch zu bleiben. Sie brauchen jetzt Ruhe und Gelassenheit und wenn sich Ihr durch den Unfall traumatisierter Körper erholt hat, werden wir alle physiotherapeutischen Maßnahmen anwenden, mit denen wir bereits gute Erfolge hatten.“ Er hoffte inständig, dass seine Worte überzeugter klangen, als er sie selbst empfand.
„Und wenn Ihre Maßnahmen in meinem Fall nichts nützen, was ist dann?“, fragte Hendrik die Frage, vor deren Antwort sich Marion genauso fürchtete wie er.
Keiner sah die junge Frau mit dem Gipsbein, die genau in diesem Moment in der halboffenen Tür stand.
„Damit beschäftigen wir uns, wenn es so weit ist und gehen bis dahin davon aus, dass es nicht soweit kommen wird. Im Augenblick ist es sehr wichtig, dass Sie positive Gedanken haben, sich nicht in Schreckensszenarios hineinwühlen“, wich der Arzt aus und fühlte sich wie der letzte Heuchler dabei. Wie stark wäre er wohl in so einer Situation?
„Was ist, wenn es soweit kommt?“, wiederholte Hendrik seine Frage.
Kurzes, lastendes Schweigen.
„Dann werden Sie Ihr Leben im Rollstuhl verbringen müssen“, sagte Dr. Melderis.
Als Marion von Lehsten auf den Boden sackte, war die junge Frau wieder verschwunden.
17. Kapitel
Leonie hatte die Faust vor den Mund gepresst, um nicht laut loszuschreien.
Ein Tornado aus schrecklichen Gefühlen tobte in ihr. Schuld, Verzweiflung, Angst durchrasten sie wie eine Achterbahn. Hätte-ich-doch-Gedanken vergifteten ihr Blut. Hätte ich doch mein Fahrradlicht reparieren lassen! Hätte ich doch zu Marius gesagt, dass ich keine Zabaglione mag! Wäre ich doch an diesem verfluchten Tag nie aufgestanden! Wäre ich doch nie geboren worden!
Zu spät, alles zu spät.
Sie stand bereits wieder auf der Straße, als sie von einem Gefühl getrieben wurde, stärker als sie, und wieder umkehrte. Wohin und was sie wollte, als sie wie blind durch die Krankenhausflure ging, wusste sie erst, als sie wieder vor seiner Tür stand, die noch immer offen stand. Vorsichtig schaute
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