Holst, Evelyn
wird mir eigentlich nie schlecht. Ich habe eine ziemliche Pferdenatur.“ Sie lächelte gequält.
„Im Augenblick sind Sie aber angeschlagen“, meinte der Arzt. „Wie geht es im Übrigen Ihrem Mann?“ Marion seufzte: „Unverändert. Wir hoffen alle auf ein Wunder.“ Dr. Wöhler musterte sie prüfend: „Bleiben Sie zuversichtlich, Frau von Lehsten. Ihr Mann braucht jetzt eine positiv gestimmte Ehefrau.“ Danke für die Predigt, dachte Marion, ich bin so positiv gestimmt, wie es mir unter diesen beschissenen Umständen möglich ist. „Ich versuche es“, sagte sie stattdessen. „Aber es ist nicht leicht. Und dann diese ständige Übelkeit ...“ „Haben Sie noch andere Symptome, Frau von Lehsten?“, fragte der Hausarzt, weil ihm plötzlich eine Idee gekommen war. „Ich bin einfach schwach und antriebslos“, gestand Marion ehrlich, „und dann ... aber das hat mit Sicherheit nicht zu bedeuten …“ „Alles hat etwas zu bedeuten“, meinte Dr. Wöhler sanft, „also ...“ „Mein Busen spannt mehr als sonst“, es war ihr peinlich, ihrem Hausarzt so intime Dinge mitzuteilen. „Aber das tut er meistens vor meiner Periode, wahrscheinlich ist es einfach nur der Stress.“ Sie sah ihn an: „Oder?“ „Vielleicht ist es auch etwas Schöneres als Stress“, er erwiderte ihren Blick und war etwas befremdet, als er sah, wie eine Ahnung in ihren Augen aufdämmerte, die sie panisch zu erschrecken schien. Es war auch seine Ahnung. „Könnte es sein, dass Sie wieder schwanger sind?“, es war eine unverblümte Frage, aber er hielt auch sonst nicht viel von unnötigen Höflichkeitsfloskeln. „Schwanger?“, wiederholte sie und sah ihn fassungslos an. „Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee?“ „Wieso absurd?“, meinte er. „Gibt es denn medizinische Gründe bei Ihnen oder Ihrem Mann, warum Sie nicht schwanger sein können?“ Sie dachte an all die fruchtlosen, frustrierenden Versuche nach dem Tod ihrer Tochter, an die vielen, vielen Male, wo sie Hendrik zur Eisprungzeit aus einer wichtigen Konferenz gerissen hatte, an die Temperaturkurven auf ihrem Nachttisch, alles umsonst – und dann dachte sie an den Nachmittag mit Ludwig ... und eine Verzweiflung verkrampfte ihr Herz, die sie nicht zu ertragen glaubte. Sie hätte sich gern ihren Schmerz vom Leib gebrüllt, hätte gern Porzellan zerschlagen, irgendeine Gewalttätigkeit begangen, die sie abgelenkt hätte, aber sie spürte den besorgten Blick des Arztes und riss sich zusammen. „Nein, es gibt keinen Grund, warum ich nicht schwanger werden kann“, sagte sie leise, erschöpft, besiegt. „Dann schlage ich vor, dass Sie so schnell wie möglich zu Ihrem Frauenarzt gehen“, Dr. Wöhler stand auf und lächelte sie aufmunternd an. „Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
Als sie die Haustür zuschlagen hörte, stand Marion von Lehsten auf und ging ins Bad. Sie stellte sich nackt vor den Spiegel und betrachtete sich sorgfältig. Ihre Brüste waren größer als sonst und wenn sie sie berührte, fühlte sie einen ganz leichten, ziehenden Schmerz. Ich bin schwanger, flüsterte sie, so als dürfe sie niemand hören, ich bekomme ein Baby. Es gab keinen Zweifel mehr für sie. Keinen Weg zurück. Plötzlich fühlte sie eine große, überwältigende Klarheit in sich. Sie wusste, was sie jetzt tun musste.
21. Kapitel
Die Rehaklinik lag vor den Toren der Stadt in einem parkähnlichen Gelände und war zu einer Zeit erbaut worden, als es der Stadt noch besser ging. Die rollstuhlgerechten Bungalows lagen zwischen hohen Bäumen und Büschen, die jetzt, im Winter kahl und grau vor sich hin dämmerten, im Frühling jedoch bunt und verheißungsvoll blühen würden. Die Wände der großen, hellen Zimmer waren in einem sonnigen Hellgelb gestrichen, eine Farbe, von der der Psychologe, den der Architekt beauftragt hatte, behauptete, sie wäre stimmungsaufhellend.
Doch bei Hendrik von Lehsten wirkte sie nicht. Er lag in Zimmer 224 im zweiten Stock mit Blick auf eine kahle Eiche und er versuchte, nicht an sie zu denken. Nicht an ihr sanftes, fröhliches Gesicht, in dem die braunen Augen auch dann funkelten, wenn sie traurig oder verzweifelt war, nicht an ihr widerspenstiges, wildes Haar, das sie sich so wunderbar nachlässig hinter die Ohren strich, Ohren, auch daran wollte er nicht denken, die klein und niedlich waren und an deren rosa fleischigen Ohrläppchen sie kleine Perlmuttperlen trug. Nicht an ihren Mund, deren sanft geschwungene Lippen ihn an Schwalbenflügel
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