Holst, Evelyn
„Wo denn?“ Sie hätte sich denken können, dass ihr kleiner, wissbegieriger Schatz sich damit nicht zufrieden geben würde. „In Afrika“, ihr war auf die Schnelle nichts anderes eingefallen. „Bei den wilden Tieren. Auf die muss er aufpassen, damit die nicht weglaufen.“ Lunas Augen hatten geleuchtet, das gefiel ihr gut, ein Papa, der in Afrika auf wilde Tiere aufpasste! „Können wir ihn denn da mal besuchen, Mama? Bitte, bitte.“ Leonie hatte mit einem „Wenn du größer bist“ vorerst ablenken können, aber ihr war klar, dass dieser Aufschub nur ein kurzer war. Und als sie ein paar Tage später in der „Apfelpause“ der aufgeregten Stimme ihrer Tochter in die Sandkiste gefolgt war, wo sie mit ihren kleinen Freunden saß, Förmchen mit Sand füllte und stolz „Wenn ich sechs bin, dann fahr ich zu meinem Papa nach Afrika“ krähte, da war ihr klar, dass sie mit ihrer Lüge einen Bumerang abgeschossen hatte.
In den folgenden Wochen hatte sie sich um Schadensbegrenzung bemüht: „Nein, wir können den Papa nicht anrufen, da, wo er jetzt ist, gibt es keine Telefone“, aber ihr war nicht wohl gewesen dabei. Sie wollte ihre Tochter nicht anlügen, schließlich predigte sie ihr immer wieder wie wichtig es sei, die Wahrheit zu sagen. Aber was, wenn diese einfach zu trostlos war? Dein Vater, mein Schatz, wollte dich nicht und deshalb wollte ich nicht, dass er in deinem Leben noch eine Rolle spielt und habe in deiner Geburtsurkunde „Vater unbekannt“ eintragen lassen. Er ist auch nicht in Afrika, mein Schatz, sondern wohnt ungefähr zehn Minuten von uns entfernt. Das wusste sie, seit sie ihn einmal auf der Straße gesehen und ihm nachgegangen war. Mit einem Herzen voller Wut und Verletztheit.
Sie hatte der kleinen Luna diese Worte natürlich nicht gesagt, aber sie hatte sich aufgerafft und mit klopfendem Herzen bei ihm zuhause angerufen. Wenn seine Frau dran gewesen wäre, hätte sie einen beruflichen Kontakt vorgetäuscht. Aber er war selbst am Apparat: „Jürgen Klinger“, seine tiefe Stimme klang genauso warm wie damals, als sie mit ihrem Fahrrad in seinen Wagen gerammt war und er sie zum Essen eingeladen hatte: „Was kümmern mich ein paar Schrammen, wenn ich dafür eine so schöne Frau zum Essen einladen kann?“ Wie war es nur möglich gewesen, dass sie auf diesen Schmus hereingefallen war? Aber sie war glücklich, dass sie es war. Denn er war ein Feigling, aber er hatte ihr Luna geschenkt.
„Ich bin’s, Leonie. Erinnerst du dich noch an mich?“
Sein Schweigen sagte alles. „Wir haben eine Tochter, Jürgen“, hatte sie ihn einfach überrumpelt, „ und die glaubt, dass du in Afrika auf wilde Tiere aufpasst, und jetzt will sie dich sehen, und ich weiß jetzt leider auch nicht ...“ „Sie müssen sich verwählt haben“, sagte er, kalt und knapp und legte auf. Sie hatte nichts anderes von ihm erwartet und trotzdem traf sie die Enttäuschung wie ein Schlag ins Gesicht. Zum Glück hatte Luna nach ein paar weiteren Wochen ihren Papa vorerst vergessen, nur ein Bild hatte sie gemalt, das Leonie in ihrer Nachtischschublade aufbewahrte und sie jedes Mal zu Tränen rührte. Es zeigte ein dickes, graues Tier mit einem sehr langen Rüssel, offensichtlich ein Elefant, auf dem drei kleine Strichwesen hockten. Mama, Papa, Luna.
„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“, die Stimme von Marius klang amüsiert, als er Leonie unterhakte und mit ihr zusammen auf den Eingang des Kindergartens zuging. „Ich habe dich gerade zu einem Abendessen eingeladen und wenn du Glück hast, gibt es diesmal kein Nudelschinkengratin. Könnte sein, dass ich mich zu einer Lammkeule aufraffe. Mit Kartoffelgratin und grünen Bohnen, also, was sagst du?“
Leonie sah ihn an und dachte wehmütig: Schade, dass ich mich nicht in dich verlieben kann. Mein Leben wäre so einfach, wenn ich es könnte. Aber ich mag dich einfach nur als Freund. Ganz ohne romantische Gefühle. Ganz ohne Herzklopfen. „Wir kommen gern, Marius“, sagte sie stattdessen. „Um sieben?“, fragte er und lächelte sie an. Sie nickte und freute sich auf den Abend. Marius kochte gut und die Kinder hatten immer jede Menge Spaß miteinander. Und das Beste war: Sie musste weder kochen noch hinterher aufräumen. Der pure Luxus. „Bis heute Abend“, lachte sie, während sie „Schneewittchen“ betrat und Sekunden später hatten die Kinderhorden sie verschluckt.
Marius sah ihr nach und wusste nicht, wie viel Sehnsucht in seinen Augen lag. Ich weiß,
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