Holst, Evelyn
schon lange nicht mehr liebten, Hendrik brauchte sie, brauchte ihre Vergebung. Aber er tat ihr nicht mehr gut. Schon lange nicht mehr. Seit das Grauen passiert war nicht mehr. Das Telefon auf dem Badewannenrand klingelte wieder. Sie lächelte, weil sie wusste, wer sie um diese Zeit anrief. Und er war es. Er enttäuschte sie nicht. Er war nicht wie Hendrik.
„Hallo, mein Schatz, ja, ich habe auch Sehnsucht. Wahnsinnige Sehnsucht sogar. Heute Abend geht’s leider nicht. Ich bin mit Hendrik verabredet. Ja, ich werde mit ihm reden. Das verspreche ich dir. Alles wird gut. Ich liebe dich.“ Als sie auflegte, wusste sie, dass sie den Tag beginnen konnte.
„Uschi“, rief sie. „Bitte bring mir ein frisches Handtuch.“ Sie lächelte.
2. Kapitel
„Luna, in einer Sekunde gehen wir los und wenn du dann deine Schuhe nicht angezogen hast, dann explodiere ich“, Leonie Baumgarten lief durch die Wohnung, sammelte auf, stellte zurück, schob zurecht, versuchte soviel Ordnung zu schaffen, wie so früh am Morgen möglich war, wenn sie beide wieder einmal verschlafen hatten und in einer Viertelstunde im Kindergarten sein mussten, aber die Wohnung bei ihrer Rückkehr nicht als Schlachtfeld vorfinden wollten. „Luna!“, jetzt schrie Leonie, denn als sie das Kinderzimmer betrat, saß ihre kleine Tochter seelenruhig auf dem bunten Verkehrsteppich und zog ihre Barbiepuppe an. Die laute, hektische Stimme ihrer Mutter irritierte sie nicht, im Gegenteil. Sie lachte und hielt ihre Puppe hoch: „Schau mal, Mama, sie hat auch eine grüne Jacke an.“
Leonie holte tief Luft und beschloss, nicht zu explodieren. „Das finde ich einfach super, mein Schatz“, sagte sie stattdessen. „Aber deine Jacke ist rot.“ Luna hielt ihren kleinen Arm vors Gesicht: „Ist sie nicht“, grinste sie. „Der Papa von Malte sagt, die ist kirschgrün.“ Leonie unterdrückte ein Seufzen. Marius, der Papa von Malte, genauso alleinerziehend wie sie aber dabei wesentlich entspannter, fuhr gelegentlich Taxi und kirschgrün nannte er es, wenn er bei sehr spätem Gelb noch über die Kreuzung bretterte. Was ihm bereits drei Punkte im Flensburger Strafregister eingebracht hatte. Dass er noch immer sein Kind im Manne hätschelte und auch als Taxifahrer ein sehr lässiges Verhältnis zu Verkehrsregeln pflegte, nahm ihm Leonie weniger übel als die Tatsache, dass er bei seinen wilden Fahrten seinen Sohn und dessen Freunde auf dem Beifahrersitz mitfahren ließ und noch nicht einmal darauf achtete, dass die Kinder angeschnallt waren. „Ich zeig dich bei der Taxiinnung an, wenn du das noch einmal machst“, hatte sie ihn angeschrien und Luna aus dem Auto gezerrt, ein etwas lächerlicher Vorgang, bei dem alle Umstehenden sie mit großen, erstaunten Augen angesehen hatten und der Luna schrecklich peinlich war. „Mama, das sind doch meine Freunde“, hatte sie protestiert, als Leonie sie hinten auf dem Kindersitz ihres Fahrrades festzurrte. „Die kannst du doch nicht so anschreien.“ „Du hast Recht, mein Schatz“, Leonie war zerknirscht.
Und sie hatte sich wirklich bemüht, die Dinge etwas lockerer zu sehen, ihrer fünfjährigen Tochter etwas mehr Freiheiten zu gewähren, was ihr schwer fiel. Die Geburt war ein einziges Trauma gewesen, 28 Stunden Wehen, die so schmerzhaft waren, wie nichts vorher oder nachher in ihrem Leben, aber sie hatte durchgehalten, ohne Schmerzmittel, ohne Kaiserschnitt und ohne einen Vater für ihr Kind, so wie all die anderen Mütter, die mit ihr im Kreißsaal lagen und die alle einen Partner auf der Bettkante hatten, der Händchen hielt.
Lunas Vater hatte sie kurz nach der Zeugung verlassen, nachdem er ihr mit den Worten „Ich lasse mich nicht hereinlegen, meine Liebe, bitte beseitige den Schaden“ die Telefonnummer eines Gynäkologen auf den Küchentisch geknallt hatte. Später erfuhr sie dann, dass er verheiratet war und vier weitere Kinder hatte, davon zwei mit anderen Frauen. Sie hatte ihn nicht lange und nicht gut genug gekannt, um wirklich zu trauern. Luna war ein „Unfall“ gewesen, das Ergebnis einer beschwipsten, verantwortungslosen Nacht, die sie bis zur Geburt bereut hatte, obwohl eine Abtreibung für sie nie in Frage gekommen wäre. Doch als Luna, rot verschrumpelt wie eine kleine Kaulquappe auf ihrem nassen Bauch zappelte, da war sie der glücklichste Mensch auf der Welt. Und daran hatte sich bis jetzt nichts geändert, im Gegenteil. Leonie liebte ihre Tochter mit einer Wucht, die sie manchmal selbst erstaunte,
Weitere Kostenlose Bücher