Holst, Evelyn
denn sie hatte eigentlich große Pläne mit ihrem Leben gehabt. Ärztin wollte sie werden und Kindern in Afrika helfen, Ehe und Familie, das alles sollte später kommen, frühestens mit Mitte Dreißig. Wenn überhaupt.
Und jetzt war sie 31 Jahre alt, alleinerziehende Mutter und Kindergärtnerin. Das Leben nahm manchmal ganz erstaunliche Wendungen.
Leonie seufzte, als sie beim letzten Rundgang durch die halbwegs aufgeräumte Wohnung ihren Mantel vom Garderobenhaken riss und die Tür abschloss. „Mama, der Marius sagt, wenn du nicht immer so böse gucken würdest, dann würden sie uns mal zum Pizzaessen einladen“, Luna rutschte neben ihrer Mutter das Treppengeländer herunter und als sie unten angelangt war, rief sie hoch: „Also, Mama, wenn du mich fragst ...“
„Ich frag dich aber nicht“, rief Leonie die Treppe herunter, weil sie wusste, was jetzt kam. Und es kam auch: „Dann würde ich Maltes Papa sofort als Papa nehmen. Du müsstest ihn auch nicht heiraten. So.“
Leonie beschloss, auf diese Feststellung, die ja im Grunde eine Forderung war, nicht zu reagieren, denn was hätte sie sagen können? Sie wusste, dass Marius sie mochte, dass er gern mehr aus ihrer Beziehung gemacht hätte als die gegenseitig wechselnde Betreuung ihrer beiden Kinder, aber sie wollte nicht. Klar, er sah sehr gut aus mit seinen blonden, windzerzausten Haaren und den meergrünen Augen, die immer zu lachen schienen. Er konnte gut mit Kindern umgehen, vermutlich weil er selbst noch ein Kind war. Mit ihm würden sie viel Spaß haben, sie und Luna, aber war das genug? Oder war es naiv und allzu romantisch, noch immer an die ganz große Liebe zu glauben? An einen Blitzschlag, der einen trifft und man weiß – das ist er! Der und nie wieder ein anderer! Bis in alle Ewigkeit! Doch obwohl sie von der Liebe und den Männern bisher nur enttäuscht worden war, glaubte sie noch daran. Ganz fest sogar. Er wird kommen, dachte Leonie, während sie mit Luna auf dem Kindersitz auf ihrem uralten, aber feuerrot angemalten Hollandrad durch die Straßen zum Kindergarten fuhr, eines Tages steht er vor mir und ich weiß es – das ist der Mann meines Lebens!
Unwillkürlich lächelte sie bei dieser Vorstellung, als sie vor dem Fahrradständer des Kindergartens „Schneewittchen“ vorsichtig abbremste, Luna aus dem Sitz hob und ihr Fahrrad verstaute. „Mama, guck mal, da ist Malte und sein Papa“, rief Luna und lief auf den großen blonden Mann zu, der eine Miniaturausgabe von sich an der Hand hielt. Sie waren ein schönes Paar, Vater und Sohn, ein inniges, und Leonie lächelte, als sie auf die beiden zuging. „Einen wunderschönen guten Morgen“, strahlte sie. „Was macht der Schnupfen, Malte. Besser?“ Der kleine Junge nickte und rannte dann mit Luna in das rote Backsteingebäude, dessen Fensterscheiben bunt und einladend mit Märchenmotiven beklebt waren. In Lunas Lieblingsfenster drohte ein giftgrüner Drache mit einer feurigen Zunge, der allerdings einen kleinen Drachen auf dem spitzen, stacheligen Rücken trug. „Mama, siehst du, der Papa trägt sein Kind, das will ich auch mal“, hatte Luna ihre Wahl begründet und es hatte ihrer Mutter einen kleinen Stich ins Herz gegeben, wie immer, wenn Luna über andere Väter sprach. Sie hatte das Thema angesprochen, als ihre Tochter drei Jahre alt und es ihr aufgefallen war, dass in ihrer kleinen Familie jemand fehlte. „Wo ist mein Papa?“, hatte sie nach einem Kindergeburtstag gefragt, wo der Vater ihrer Freundin Madeleine als Clown verkleidet mit den Kindern gespielt hatte und ihre Kinderstimme hatte traurig und fordernd zugleich geklungen. Und obwohl sich Leonie auf dieses Gespräch mit ihrer Tochter vorbereitet hatte seit sie den Zettel mit der Telefonnummer des Abtreibungsarztes in kleine, wütende Stücke zerrissen hatte, fühlte sie sich in diesem Moment überfordert von dem fragenden, kleinen Gesicht, den großen, unschuldigen Augen: „Dein Papa?“, hatte sie die Frage wiederholt, um etwas Zeit zu gewinnen, aber Luna hatte nur genickt und sie unverwandt angesehen. „Dein Papa wohnt woanders“, sie wusste, wie schwach sie klang, wie unglaubwürdig und es hatte sie nicht überrascht, dass diese Antwort ihrer Tochter nicht genügt hatte. „Wo wohnt mein Papa denn?“ Was sollte sie antworten? Ich habe keine Ahnung, der Schuft hat noch vier weitere Kinder und will nichts von uns wissen? „Dein Papa wohnt ganz weit weg, mein Schatz, so weit, dass er uns leider nicht besuchen kann.“
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