Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
alte Kriegsmatrose
sich
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doch alle Mühe gegeben, seinem Freund das wieder auszureden. Das Leben
hatte doch noch immer die eine oder andere Freude zu bieten. Die guten
Abende in dem winzigen Wohnzimmer mit leisem Gespräch und etwas Neger-
jazz vom Plattenspieler hatten zumindest Karisen immer gewärmt.
Er seufzte tief und starrte ungeduldig auf das Aspirin, das sich offenbar im
Wasserglas nicht auflösen mochte. Dann hob er den Blick und ließ ihn auf
Klaras Foto ruhen. Noch immer zeigte der Rahmen den schmalen schwarzen
Trauerflor, den er am Tag ihrer Beerdigung gekauft hatte. Beim Anblick der
üppigen Frau mit den Dauerwellen und der schönen Brosche auf der Brust
traten ihm die Tränen in die Augen. Die Brosche hatte er von seiner Mutter
geerbt und Klara zur Verlobung geschenkt. Argerlich schüttelte er den Kopf
und leerte die Medizin in einem Zug. Der bittere Geschmack ließ ihn
zusammenschauern, und er hätte gern den letzten Schluck aus der
Schnapsflasche getrunken.
Das tat er aber nicht.
Und dann ging es ihm auf: Stäle Salvesen hatte ihm sehr wohl ein Zeichen
gegeben. Eine Vorwarnung, eine Art Lebewohl. Natürlich hatte er das.
Hausmeister Karisen stand auf und kochte sich noch einen Kaffee. Er fühlte
sich jetzt besser. Stäle hatte nur ihn gehabt. Nur auf ihn, Ole Monrad Karisen,
hatte Stäle sich verlassen können. Und deshalb hatte er ihn um einen letzten
Dienst gebeten. Natürlich hatte Karisen sich über diese Bitte gewundert, aber
jetzt begriff er alles.
Stäle Salvesen hatte sich verabschiedet.
Auf seine Weise.
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Mustafa Özdemir stand zu seinem Wort. Schon um halb zehn meldete er sich
am Informationstresen im geräumigen Foyer des Polizeigebäudes und bat um
ein Gespräch mit Karianne Holbeck. Es war Montagmorgen, und er hatte eine
wichtige Verabredung. Entsprechend hatte er sich angezogen, braune Hose
und Schuhe, blaues Hemd. Sein Schlips war alt und vielleicht ein wenig zu
breit, aber er nahm das nicht so genau. Die Polizistin mußte sich zufrieden
geben, ein Schlips war immerhin ein Schlips. Die Jacke war großkariert und
ein wenig eng. Mustafa Özdemir fühlte sich trotzdem wohl; er war
frischgeduscht und hatte außerdem fast eine Viertelstunde mit dem
Zurechtstutzen seines soliden, rabenschwarzen Schnurrbarts verbracht.
Karianne Holbeck durchfuhr bei seinem Anblick ein Stoß der Erleichterung.
Er sah zwar genauso aus, wie sie erwartet hatte; sie hatte nie begriffen, warum
alle Männer aus seiner Gegend einen Schnurrbart hatten. Vielleicht war es wie
mit den Leuten aus Trondheim. Sie mußten einfach etwas unter der Nase
haben. Aber dieser Mann stank immerhin nicht nach Schweiß, und er war
gepflegt gekleidet - wenn auch reichlich altmodisch.
»Setzen Sie sich«, sagte sie und zeigte auf einen Stuhl. »Schön, daß Sie
gekommen sind.«
»Das war doch verabredet, oder?«
Er wirkte ein wenig verärgert, als habe in ihrer Bemerkung der Vorwurf der
Unpünktlichkeit gelegen. Was ja auch stimmte, und sie versuchte die
Stimmung dadurch zu verbessern, daß sie ihm Kaffee anbot.
»Nein, vielen Dank«, sagte er abwehrend und schwenkte dabei eine Hand.
»Wenn ich Kaffee trinke, dann kriege ich Magenprobleme, wissen Sie.«
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Özdemir schnitt eine vielsagende Grimasse und lächelte danach breit.
Hanne Wilhelmsen betrat, ohne anzuklopfen, Karianne Holbecks Büro.
»Mustafa«, sagte sie überrascht und streckte die Hand aus. »Du bist das?«
»Hanna«, er strahlte und sprang auf. »Hanna!«
»Hanne«, flüsterte Karianne Holbeck und errötete stellvertretend für den
Mann ein wenig. »Sie heißt Hanne. Mit einem E.«
»Hanna, meine Freundin.«
Er mochte Hannes Hand gar nicht wieder loslassen.
»Warum bist du hier, Hanna? Kennst du diese Dame?«
Er zeigte auf Karianne Holbeck und schien eine Bekanntschaft der beiden
Frauen für vollständig unvorstellbar zu halten. Dann setzte er sich wieder.
Hanne Wilhelmsen blieb an die Tür gelehnt stehen, es gab keinen dritten
Stuhl.
»Ich arbeite hier«, sagte sie und schaute ihm lächelnd in die dramatisch
aufgerissenen Augen. »Ich arbeite bei der Polizei.«
»Das hast du mir nie erzählt«, jammerte er. »Meine Güte. Meine Hanna ist
Polizei!«
Er beugte sich über den Tisch zu Karianne Holbeck vor, der war sein lässiger
Umgang mit der Hauptkommissarin offenbar peinlich.
»Hanna ist meine Lieblingskundin«, sagte er und richtete einen mit
schwarzen Haaren überwucherten Finger auf Hanne.
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