Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
geschlossen wurde. »Aber nicht sehr viel.«
Dann fing sie an zu schreiben.
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Zuerst glaubte Hanne Wilhelmsen, sie sei mit Billy T. zusammengestoßen. Der
Mann war riesengroß, und als er sie mit einem Arm auf die Beine zog und mit
dem anderen die Papiere auflas, die ihr hingefallen waren, geschah das mit
einer Kraft, die ihr vertraut erschien. Als sie das Gesicht hob, sah sie, daß sie sich geirrt hatte.
»Verzeihung«, sagte der Mann unglücklich und wollte gar nicht wieder
loslassen.
»Das war mein Fehler«, Hanne versuchte, sich von ihm zu befreien. »Lange
nicht mehr gesehen.«
Er lächelte und knallte eine Visitenkarte auf die Papiere, die er inzwischen
aufeinandergestapelt hatte.
»Iver K. Feirand, Hauptkommissar.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie kleinlaut. »Wenn es auch viel zu spät
kommt.«
»Ist erst zwei Monate her.«
Iver Feirand war ein frischbeförderter Kollege, der vor allem in
Pädophiliefällen ermittelte. Er gehörte zu den wichtigsten Fachleuten des
Landes. Nachdem Justizministerium, Anklagebehörden und Polizei zu Beginn
der 80er Jahre erkannt hatten, daß Vergewaltigung von Kindern nicht nur im
Ausland vorkam, hatten mehrere Ermittler sich spezialisieren können. Sie
selbst meinten, sie brauchten dreimal so viele Leute, aber wenige waren trotz
allem besser als gar keine. Iver Feirand war im Laufe der Jahre bei In
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terpol in Lyon und bei Scotland Yard in London eingesetzt worden und hatte
noch dazu einen anspruchsvollen Lehrgang beim FBI mitgemacht. Er teilte
Hannes Faszination für alles, was die USA zu bieten hatten. »Been up to?«
Er lächelte und streckte die Hände aus, um sich als Träger anzubieten. Hanne
schüttelte den Kopf.
»Die Halvorsrud-Geschichte. Und zehn Tonnen andere Fälle.«
Sie schaute vielsagend ihre fünf dicken Ordner an.
»O verdammt, was für ein Fall«, sagte er und ging mit ihr zusammen weiter.
»Wann werdet ihr den Typen knacken?«
»Weiß nicht. Ich weiß nicht mal, ob er es überhaupt getan hat.«
Iver Feirand lachte laut und herzlich.
»Du weißt nie, ob jemand irgend etwas getan hat.«
»So sollten wir ja eigentlich denken, bis sie verurteilt worden sind. Findest du nicht?«
Er zuckte mit den Schultern und war plötzlich ernst.
»Das Problem bei uns ist ja eher das Gegenteil«, sagte er und schob die Hände
in die Taschen. »Die Leute, die wir schnappen, triefen geradezu vor Schuld.
Aber es gelingt uns viel zu selten, sie verurteilen zu lassen. Du dagegen. . . «
Er unterbrach sich und legte ihr die Hand auf die Schulter. Widerwillig
drosselte sie ihr Tempo und drehte sich zu ihm um.
»Ich höre Gerüchte, daß du dein Motorrad verkaufen willst«, sagte er zögernd
und kratzte sich an der Schläfe. »Stimmt das?«
»Woher weißt du das?«
Hanne konnte sich einfach nicht erinnern, ob sie ihren Plan, die Harley
loszuwerden, anderen als nur Cecilie gegenüber erwähnt hatte.
»Ist doch egal. Aber stimmt es?«
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»Ich spiele mit dem Gedanken.« »Warum?«
Hanne seufzte und setzte sich wieder in Bewegung. »Das ist meine Sache.«
»Stimmt was nicht mit der Mühle?« »Doch. Ist völlig in Ordnung.« »Wieviel
willst du denn dafür?«
Sie hatten jetzt Hannes Bürotür erreicht. Iver Feirand vertrat ihr breitbeinig
den Weg. Abgesehen von seinem kräftigen Blondschopf hatte er eine
unheimliche Ähnlichkeit mit Billy T.
»Ich weiß nicht«, sagte Hanne genervt. »Ich habe mich ja noch nicht mal
entschieden.«
Das stimmte nicht. Sie wußte, daß die Maschine wegmußte. Sie hatte versucht,
nicht daran zu denken; sie wußte einfach noch nicht, wieso es für sie so wichtig war, dieses Motorrad nicht mehr zu haben.
»Wie oft ist es lackiert worden?« fragte Iver Feirand. »Ich meine, es war doch
sicher nicht rosa, als du es gekauft hast?«
»Doch. So hatte ich es in der Fabrik bestellt.«
»Hör mal. . . «
Er kratzte sich am Hals.
»Wenn du verkaufen willst, dann sag Bescheid. Ich bin total interessiert, wenn
der Preis okay ist. Meine Frau wird sauer sein, aber irgendwann muß ich ja
auch mal an die Reihe kommen. Ich kann es ja neu lackieren. Ruf an, ja?«
Er tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe und lief zur blauen Zone zurück.
Hanne schaute ihm noch einige Sekunden nach. Von hinten ähnelte er Billy T.
nicht so sehr. Iver Feirand hatte einen viel fescheren Hintern.
»Hundertzwanzigtausend vielleicht«, murmelte sie. »Mindestens.«
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Ein Junge von vielleicht zwölf
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