Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
nachdem
Eivind Torsvik auf der Wache fünf Ordner und zwanzig Disketten auf den
Tisch geknallt hatte, losgetreten worden. Das Material war so detailliert, so
gründlich und so solide, daß die Polizei nur zwei Tage brauchte, um allem auf
den Grund zu gehen. Erik Henriksen, der jetzt als Oberkom
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missar mit Spezialgebiet »sexuelle Übergriffe« fungierte, war mit seiner
Aufgabe gewachsen. Der Mann zeigte einen ganz neuen Ernst. Er war zu jung
für diesen Posten, erst zweiunddreißig Jahre, aber Hanne hatte ihn immer für
tüchtig gehalten. Und sie war bei ihrer Beförderung auch nicht viel älter
gewesen.
Die Zeitungen hatten sich in der »Operation Engel« gesuhlt, und diese hatte
wirklich jede Menge Stoff geboten. Allein in Norwegen waren neun
Verhaftungen durchgeführt worden. Einer der neuen Untersuchungshäftlinge
war ein bekannter Politiker, zwei andere waren angesehene Ärzte. Dann kam
das Pfingstwochenende mit einem blutigen Dreifachmord in Sorum, einige
Dutzend Kilometer im Nordosten der Hauptstadt, und der Polizeidistrikt Oslo
konnte sich für einige Zeit vom scharfen und bisweilen ausgesprochen
anstrengenden Suchlicht der Medien erholen.
Auch der Kosovo-Krieg war jetzt Vergangenheit.
Es war Mittwoch, der 9. Juni 1999, und die Uhr ging auf Mitternacht zu. Seit
Hannes Beurlaubung hatte Cecilie immer wieder ins Krankenhaus gemußt. Es
konnte ihr tagelang recht gut gehen, dann verschlechterte sich ihr Zustand
dermaßen, daß Hanne schon glaubte, alles sei zu Ende. Aber dann erholte sie
sich erstaunlicherweise wieder und konnte für eine Woche oder auch mehr
nach Hause.
Sie waren die ganze Zeit zusammen.
Oft kam Besuch für Cecilie, zu Hause und im Krankenhaus. Hanne war nie
dabei, sie grüßte nur kurz im Vorübergehen und verließ solange das Haus.
Cecilie griff nicht ein. Vielleicht hatte sie mit den anderen gesprochen, denn
die machten nicht mehr den Versuch, Hanne aufzuhalten. Auch Billy T. nicht.
Es nieselte.
Hanne hatte einen langen Spaziergang gemacht, durch die gesamte Umgebung
des Krankenhauses, bis nach Täsen,
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über die Kreuzung hinweg, auf der Iver Feirand von einer Kamera entlarvt
worden war, weiter nach Nordberg und zum Sognsvann. Sie war zwei Stunden
unterwegs gewesen und wurde nervös.
»Bist du sicher, daß ich niemanden anrufen soll?« fragte die mollige
Krankenschwester, als Hanne zurückkam.
Sie hieß Berit und war außer Cecilie der einzige Mensch, mit dem Hanne seit
langer Zeit ernsthaft gesprochen hatte.
»Soll denn heute nacht sonst niemand herkommen?«
Hanne schüttelte den Kopf.
Cecilie war bewußtlos. Als Hanne sich neben das Bett setzte, wußte sie
Bescheid. Cecilie wog knapp fünfundvierzig Kilo und hatte keine Reserven
mehr.
Hanne sprach die ganze Zeit mit Cecilie. Sie streichelte ihr behutsam das Haar
und erzählte die Dinge, über die zu sprechen ihr bisher immer der Mut gefehlt
hatte. Sie hatte nicht mit Cecilie darüber gesprochen, und auch sonst mit
niemandem.
Als der Morgen kam, starb Cecilie Vibe.
Es geschah ganz lautlos, ein kurzes Zucken huschte über ihre Augen, dann war
es zu Ende.
Hanne Wilhelmsen hielt noch eine weitere Stunde die Hand ihrer Geliebten.
Dann kam Berit und lockerte ihren Griff behutsam, und dabei versuchte sie,
Hanne zum Aufstehen zu bewegen.
»Es ist jetzt vorbei«, sagte sie leise und mütterlich. »Komm jetzt, Hanne. Zeit, um loszulassen.«
Als Hanne auf steifen Beinen ins grelle Licht des Korridors trat, saßen dort
Cecilies Eltern. Sie hielten einander an den Händen und weinten leise.
»Danke«, sagte Hanne und sah Cecilies Mutter für einen Moment an.
Die alte Frau hatte solche Ähnlichkeit mit ihrer Tochter. Sie hatte die gleichen Augen, schrägstehend und mit brei-263
ten Augenbrauen, den gleichen Haaransatz, den gleichen pikanten
Amorbogen, der Cecilie immer Probleme mit dem Lippenstift beschert hatte.
»Danke dafür, daß ich mit ihr allein sein durfte.«
Dann verließ Hanne Wilhelmsen das Krankenhaus, ohne die geringste
Vorstellung davon zu haben, was sie nun machen sollte.
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