Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
nicht darum, Halvorsrud das
Leben noch schwerer zu machen.«
»Es hat gutgetan, sie zu sehen. Gutgetan und zugleich schrecklich wehgetan.
Seltsam.«
Karen legte die Hand auf Hannes Unterarm.
»Ich freue mich so, daß es zwischen euch besser läuft«, sagte sie leise. »Cecilie scheint das sehr zu helfen.«
»Ich an deiner Stelle«, sagte Hanne, »würde ihm das ausreden.«
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Sie wich fast unmerklich einen Schritt zurück und fügte dann hinzu: »Ich
werde sehen, was ich bei der Aktennotiz machen kann. Ich werde sie ein wenig
drehen. So weit das möglich ist. Ich kann so ungefähr schreiben, daß er
einfach verzweifelt war und um ein Gespräch bat. Und so weiter und so
weiter.«
Karen Borg ließ ihre Hand sinken.
»Was wird am Montag?« fragte sie deutlich resigniert. »Mit der Beerdigung,
meine ich.«
»Ich werde sehen, was ich machen kann.«
Hanne wich noch weiter zurück und blies sich die Haare aus den Augen.
»Bitte keine Wiederholung der Rashool-Sache«, bat Karen Borg. »Vergiß die
Handschellen und diesen ganzen Kram, bitte. Die machen sich bei
Beerdigungen einfach nicht gut.«
Hanne zeigte deutlich, daß sie in ihr Büro zurück wollte. Karen hielt sie mit
einer Handbewegung auf. Hanne starrte konzentriert die Micky-Maus-Pflaster
an und lächelte ein wenig.
»Kannst du schlafen?« fragte Karen.
»Ich an deiner Stelle«, fing Hanne an und schaute sich verschwörerisch zu
Karen um, »wenn ich Halvorsruds Anwältin wäre, dann würde ich die Sache
mit der Haft noch einmal überprüfen lassen. Stell doch einfach einen Antrag!
Der Mann wünscht sich irgendeinen Haftersatz. Versuch das doch.
Meldepflicht. Von mir aus zweimal täglich. Mach einen Versuch. Bail the guy
out.«
»Bail? Kaution?«
»Ja. Das ist doch auch in Norwegen möglich. Daß es nie gemacht wird, heißt
nicht, daß es verboten wäre. Sieh dir Paragraph 188 an. Seine Tochter ist sehr
krank. Der Mann hat Freunde im System. Er sieht elend aus. Das hast du ja
selbst gesagt. Also reiß dich zusammen und mach einen Versuch.«
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Karen Borg schüttelte langsam den Kopf. Jetzt stellte sie sich quer vor die Tür, so breitbeinig, wie das in ihrem engen Rock möglich war. »Was ist nur in dich
gefahren?«
»Aber hör doch mal«, sagte Hanne leise und eifrig, ihr Gesicht war nur zehn
Zentimeter von Karens entfernt. »Was die überzeugenden Verdachtsmomente
angeht, so haben wir Halvorsrud an den Eiern. Es würde ihm doch jetzt arg
schwer fallen, noch Beweise verschwinden zu lassen. Wir haben sein Haus
durchkämmt. Wir haben eine Unmenge von Zeugen verhört. Wir haben bei
seiner Familie und in seinem Büro alles beschlagnahmt, was von irgendeinem
Interesse sein kann. Und noch viel mehr, um ehrlich zu sein.
Wiederholungsgefahr? Wohl kaum.«
Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und sagte dann: »Soll die
Kleine vielleicht draufgehen, ehe Papa ihr helfen darf?«
Karen Borg gab keine Antwort. Sie musterte Hannes Augen. Die waren von
einem dunkleren Blau als in ihrer Erinnerung. Der markante schwarze Rand
um die Iris schien gewachsen zu sein. Etwas Neues war in Hannes Augen ge-
kommen. Ihre Pupillen waren groß, und für einen Moment konnte Karen dort
ein weitwinkliges Spiegelbild ihrer selbst sehen.
»Und was ist mit Paragraph 172?« flüsterte sie und versuchte, Hanne von der
Tür fortzuschieben. »Ich möchte nicht, daß er uns hört.«
»Haft auf Grundlage besonders schwerwiegender Verbrechen?«
Karen nickte. Hanne seufzte demonstrativ und weigerte sich, einen Schritt zu
tun.
»Ist dir klar, wo derzeit die durchschnittliche Anzahl von U-Hafttagen liegt?«
»Irgendwo in den Sechzigern.«
Jetzt stemmte Karen Borg beide Handflächen gegen
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Hannes Schultern und gab erst nach, als die Hauptkommissarin und die Tür
durch zwei Meter getrennt waren.
»Siebenundsechzig Tage«, präzisierte Hanne Wilhelmsen. »In Norwegen
sitzen die Leute ohne Urteil siebenundsechzig Tage hinter Schloß und Riegel.
Im Durchschnitt. Und das ist ein Skandal. Nein. . . versuch es mit unverhält-
nismäßigen Maßnahmen. Benutz die Kleine. Versuch es doch einfach. Sei nicht
so verdammt feige.«
Karen konnte sie nicht mehr aufhalten. Hanne drängte sich an ihr vorbei und
öffnete die Bürotür. Sigurd Halvorsrud saß noch immer so da wie während der
ganzen Zeit: mit geradem Rücken und den Händen im Schoß. Er schaute kurz
auf, dann richtete er seinen Blick wieder auf etwas, das sich auf der
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