Holunderküsschen (German Edition)
Gesicht sieht aus, als wäre über Nacht die Decke darauf gefallen . D a zu noch diese fleckig verheulte Haut. Es ist sieben Uhr morgens und wenn ich könnte, würde ich mich auch mit Titten-Annette betrügen.
Panisch drehe ich den Wasserhahn auf und spritze mir das eiskalte Wasser ins Gesicht. Als ich wieder hoch schaue, sind die Reste meiner verschmierten Mascara weg und meine Augen haben fast wieder ihre normale Größe. Lediglich die hartnäckige Knitterfalte auf meiner rechten Wange will nicht verschwinden, aber für mehr Restauration ist jetzt keine Zeit. Benni kann jeden Moment zurück sein. Meine anfängliche Schüchternheit hat sich verflüchtigt. Der Typ kann mir mal im Mondschein begegnen. Eine Frau in meinem Zustand einfach auszunutzen. Keine Moral der Mann.
Ich stopfe fluchend die restlichen Sachen in meine Tasche und stürme aus dem Abteil. Der Zug hält. Ein Schwall von müden Mitreisenden drängt Richtung Ausgang und reißt mich mit. Ich drehe mich noch einmal um.
Oh mein Gott, da hinten steht Benni ... der Mistkerl. Selbst so früh am Morgen sieht der Typ verdammt gut aus. Er hält zwei Pappbecher in den Händen. Scheiße! Jetzt hat er mich auch en t deckt. Er hebt die Arme und in seinem Gesicht steht grenzenlose Verwunderung geschrieben. Er öffnet seinen Mund und ruft meinen Namen. Na, der hat Nerven! Erst nutzt er meine Hilflosigkeit schamlos aus und dann macht er einen auf Unschuldsengel. Und was sollen die zwei Pappbecher in seiner Hand? Die Türen der Bahn gehen laut zischend auf. Ich werfe einen letzten Blick in Bennis Richtung. Er ist verschwunden. Die Menge drängt nach draußen und ich lasse mich von ihr auf den Bahnsteig spülen. Ich haste im Tippelschritt in Richtung Ausgang und verfluche dabei den Designer meines Rockes. Vor dem Bahnhof warten bereits mehrere Taxis.
Erleichtert lasse ich mich auf den Rücksitz fallen und nenne dem Taxifahrer Katjas Adresse. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in einen Schraubstock gespannt. Ich brauche unbedingt eine Kopfschmerztablette. Katja hat bestimmt eine Tablette zu Hause. Katja hat immer alles. Sie ist so eine Art Organisationstalent, deshalb hat sie auch die Projektleitung von dem Russen übertragen bekommen. Na ja und ein bisschen, weil sie mit ihm geschlafen hat, aber darüber redet Katja nicht so gerne.
Ich fahre durch das morgendliche Hamburg. Katja wohnt in einem der angesagten Viertel, ganz in der Nähe der Alster. Obwohl ich geschlafen habe, fühle ich mich zerschlagen. Vielleicht hat der Typ mir doch K.O . -Tropfen in meinen Drink getan? Schließlich liest man ja immer wi e der solche Geschichten , in denen arme fehlgeleitete Mädchen von fiesen Typen mit K.O . -Tropfen gefügig gemacht werden . Auch wenn es in meinem Fall des Piccolos eher unwahrscheinlich ist. Wie konnte mir nur so etwas passieren?
Plötzlich beginnt mein Handy zu vibrieren. Und ich zucke erschreckt zusammen. Ich ziehe es aus der Tasche und schaue auf das Display. Es ist Johann. Ich kann jetzt nicht mit ihm reden. Jetzt nicht. Nein, nie mehr! Kurz darauf teilt mir das Handy mit, dass eine Nachricht hinterlassen wurde. Ich hebe das Telefon ans Ohr und drücke den Knopf zum Abhören meiner Mailbox.
„Julia, Schnuppelchen“, tönt mir Johanns näselnde Stimme entgegen. „Wo steckst du? Ich mache mir Sorgen. Bitte ruf mich kurz an, ich muss dir etwas Wichtiges ... äh ... mitteilen.“
Was kann das sein? Vielleicht hat er mit Annette Schluss gemacht? Oder – die Kündigung! Er will mir tatsächlich am Telefon kündigen. Ich fange an zu heulen. Der Taxifahrer wirft mir einen besorgten Blick durch den Rückspiegel zu. Ich stecke mein Handy in die Tasche und öffne das Fenster. Rechts die Alster, links wunderschöne Villen. Es ist ein herrlicher Sonnentag. Der laue Wind weht mir ins Gesicht und zerwühlt meine Haare, genauso wie es Johann immer getan hat, wenn er besonders zärtlich zu mir war. Plötzlich überkommen mich Zweifel.
Soll ich umkehren? Ihn zur Rede stellen? Kann das alles nur ein Missverständnis, ein blöder Umstand sein, der ihn dazu gezwungen hat? In mir keimt die Hoffnung, dass Titten-Annette me i nen armen Johann vielleicht gegen seinen Willen verführt hat. Habe ich mal wieder überreagiert, wie es so oft meine Art ist?
Bei meiner Freundin Katja wäre Johann nicht so glimpflich davon gekommen. Als Katja bei ihrem letzten Freund, einem Banker, herausfand, dass er sie während ihres Urlaubs mit einer di e ser billigen Blondinen betrogen hat,
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