Holunderküsschen (German Edition)
mich sofort von dem Projekt abziehen. Nein, nein, so ist es besser. Und für dich wäre es besser, wenn du Johann nicht anrufst. Verstanden?!“
„Schon klar, Chef“, antworte ich und recke mein Kinn in die Höhe.
„Gut so“, sagt Katja mit zufriedener Stimme. „Bis später, Süße.“
„Bis später“, antworte ich und lege auf. Ich bin eine starke, selbstbewusste Frau und ich werde nicht den Mann anrufen, der Vater meines ungeborenen Kindes werden sollte.
Heute ist schon mein vierter Tag bei Holiday Dreams . Ich habe meine Zeit genutzt und mich mit den Mitarbeitern auf meiner Etage bekannt gemacht. Außerdem habe ich wahnsinnig viel Kaffee mit Emma und Thomas getrunken und mir den Klatsch und Tratsch aus dem Büro erzählen lassen. Das ist wichtig . Sonst läuft man ständig Gefahr in ein Fettnäpfchen zu treten und darin bin ich, aus mir völlig unverständlichen Gründen, Weltmeisterin.
Ein Büro ist ein eigenständiger Mikrokosmos. Normal geltende Regeln werden völlig außer Kraft gesetzt. Der unscheinbare Redakteur entpuppt sich im wahren Leben als echter Supermann á la Clark Kent, die mausgraue Sekretärin als echte Sexbombe und die Chefin als wahrer Dr a chen. Deshalb sind ja Mitarbeiterfeiern so gefürchtet, denn hier kommen oft die wahren Chara k tere zum Vorschein und so manch einer hat im angetrunkenen Zustand Dinge gesagt oder getan, über die noch Tage später im Büro getuschelt wurde.
Elisabeth Hirsekorn, die Verlagsleiterin, wird von allen Mitarbeitern nur die »Eiserne Lady« genannt, weil sie praktisch im Büro schläft und nie ein Sterbenswörtchen über ihr Priva t leben nach außen dringen lässt.
Ich vermute ja, dass sie gar keins hat und sie deshalb jeden Tag im Büro ist. Sie ist hier so etwas wie die ungekrönte Herrscherin. Alle reden nur mit vorgehaltener Hand und mit ehrfürc h tiger Stimme über sie. Als ob die Frau eine Heilige mit überdurchschnittlichem Gehör sei. Also bitte, das ist doch lächerlich!
Ich habe »Elisabeth Hirsekorn« gleich mal durch sämtliche Suchmaschinen im Internet g e jagt und bin auf eine interessante Sache gestoßen. Die gute Frau ist Mutter zweier Kinder. Name des Vaters unbekannt. Ein ganz so unbeschriebenes Blatt ist sie also doch nicht. Ich habe sogar ein Bild gefunden, einen unscharfen Schnappschuss, der sie bei ihrer Ankunft am Flughafen z u sammen mit ihren Kindern zeigt. Der Junge hat braune Haare und eine dicke Brille im Gesicht, die ihn aussehen lässt wie der junge Yves Saint Laurent und das Mädchen hat raspelkurze blonde Haare, abstehende Ohren und eine Zahnspange. Man kann nur hoffen, dass beide wenigstens mit Intelligenz gesegnet sind. Elisabeth Hirsekorn selbst trägt ein Kostüm mit Schulterpolstern und Pumps. Leider wird ihr Gesicht zu neunzig Prozent durch einen Schal verdeckt, der durch einen Windstoß in ihr Gesicht fällt. Aktuellere Bilder waren nirgends zu finden.
Als ich von der Toilette zurückkomme, finde ich eine kleine Notiz mit Emmas feinsäuberl i cher Handschrift auf meinem Schreibtisch.
Ich habe dir den letzten Jahresbericht der Holiday Dream besorgt. Vielleicht ganz gut als Hintergrundinformation. Vergiss nicht das Meeting um neun Uhr in Raum 112. Emma
Ich pfeife auf Hintergrundinformationen. Das ist was für Anfänger. Ich lese ja auch prinz i piell keine Gebrauchsanweisungen. Die meisten elektrischen Geräte erschließen sich mir intuitiv. Okay, die eine oder andere Funktion auf meinem Laptop habe ich nie gefunden, aber letztendlich auch nie gebraucht . Lustlos blättere ich in dem Monsterteil von Jahresbericht, der auf meinem Schreibtisch liegt.
Gähn!
Ich lege den Schinken zur Seite und schnappe mir stattdessen eine Ausgabe der Holiday Dream . Ah, das ist schon viel besser! Zugegebenermaßen würde ich mir selbst nie die Holiday Dream kaufen, um mir Anregungen für meinen nächsten Urlaub zu holen. Hier findet der Leser auf Hochglanzpapier nur lauter aufgemotzte Edelschuppen, die sich kein Mensch leisten kann, außer man heißt Paris Hilton oder P. Diddy. Oder, man arbeitet wie ich für ein Reisemagazin!
Ich sehe mich schon am Strand von Hawaii. Die besten Ressorts werden mein neues Zuha u se sein. Das Doppelzimmer auf den Seychellen für günstige 490 Euro am Tag. Mensch, da nehme ich doch gleich zwei. Eines für mich und eines für meine Koffer. Hihi!
Gelangweilt werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Mist, es ist drei Minuten vor Neun. Wo ist nur die Zeit geblieben? Dabei war ich
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