Holunderliebe
mein Talent mit Pflanzen auch beruflich zu nutzen.
Ich zahlte, warf meine Tasche in den alten Golf meiner Mutter und machte mich auf den Heimweg. Auf der Reichenau hatte ich nichts von dem erreicht, was ich mir vorgenommen hatte – aber es fühlte sich besser als vorher an. Immerhin etwas.
Als ich an der Kirche vorbeifuhr, nahm ich für einen Moment den Fuß vom Gas. Unwillkürlich musste ich wieder an das untergegrabene Kraut des Vortags denken. Die zarten Blätter, die irgendjemand mit roher Gewalt aus dem Boden gerissen hatte.
Ohne lange nachzudenken, trat ich auf die Bremse und fuhr auf den Parkplatz. Mit ein bisschen Glück war doch noch ein kleiner Trieb da, den ich in einem geschützten Frühbeet vielleicht dazu überreden konnte, ein weiteres Mal auszuschlagen. Dann würde ich wenigstens das Geheimnis um diese Pflanze lösen und herausfinden, ob es einfach nur eine spontane Aussamung war oder ob es sich hier wirklich um die so lange gesuchte Ambrosia handelte.
Augenblicke später kniete ich vor dem umgegrabenen Bett. Meine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. In einer Ecke hatte der Mensch, der das hier so grob umgewühlt hatte, nicht sorgfältig genug gearbeitet. Zwei kleine Blättchen arbeiteten sich unbeirrt durch die Erdkrumen ins Licht. Ich nestelte ein unbenutztes Papiertaschentuch aus meiner Hosentasche und tauchte es in eine Gießkanne, die bis an den Rand gefüllt unter einem Wasserhahn stand. Dann grub ich sorgfältig rings um das zarte Pflänzchen ein Loch in die Erde und hob es so vorsichtig wie möglich nach oben. Die Chancen standen gut, dass es im nassen Taschentuch überleben würde.
»Lass es doch gut sein«, ertönte hinter mir eine Stimme. »Diese Pflanze bewirkt nichts Gutes. Und die Suche nach ihr auch nicht. Warum hörst du nicht einfach damit auf, einem Geheimnis hinterherzujagen, das du doch nicht lösen kannst?«
Eindeutig die Stimme von Simon. Ich schloss sorgfältig das Taschentuch über meinem zarten Fund, erhob mich und drehte mich langsam um. »Wenn du weißt, was diese Pflanze bewirkt – wie kommt es, dass du sie vorgestern angeblich nicht erkannt hast? Und wenn du dir jetzt so sicher in der Bestimmung bist: Warum willst du dieses Wissen nicht mit mir teilen?« Ich merkte selber, dass meine Stimme bitter klang.
Simon hob hilflos die Hände. »Egal, was ich sage, du wirst mir nicht glauben. Du musst eine Wahrheit mit Händen fassen können, damit du sie auch glaubst. Und diese Art des Wissens kann ich dir nicht bieten.«
»Versuch es doch einfach«, entgegnete ich und spürte, wie meine Fröhlichkeit des Morgens schwand und einem Zorn Platz machte, der sich vor allem auf Simon konzentrierte. Ich war viel zu wütend über seine plötzliche Abweisung gestern. Und sein Gerede über merkwürdige Wahrheiten wollte ich auch nicht hören.
»Diese Pflanze …« Er deutete auf das leere Beet. »Dabei mag es sich wirklich um das gesuchte Ambrosiakraut handeln. Aber du musst mir glauben: Es bringt Unglück, wenn man zu sehr danach sucht. Deine Eltern haben es getan – und meine Eltern mit dieser Suche angesteckt. Und am Schluss waren alle vier tot und haben ihr Wissen mit ins Grab genommen. Ich möchte dafür sorgen, dass niemand mehr nach diesem Wissen sucht.«
Ich hob mein Taschentuch in die Höhe. »Es ist gefunden, Kräutermann! Die Suche ist beendet, wie sollte sie also Unglück bringen? Und nur zu deiner Information: Meinen Eltern geht es wunderbar, sie sitzen in ihrem Häuschen, füttern die Ziegen und gehen mit ihrem schlecht erzogenen Hund Gassi. Sie wissen nichts von Ambrosia, es interessiert sie auch nicht, und sie werden garantiert nicht bei der Suche danach ums Leben kommen, klar? Das mit deinen Eltern tut mir leid, aber vielleicht solltest du dir besser professionelle Hilfe suchen, damit du endlich über diesen Verlust hinwegkommst.«
Simon sah mich betreten an. »Ich weiß, das kommt für dich jetzt überraschend, aber deine Eltern …« Er brach ab und suchte nach Worten. »Das sind nicht deine Eltern.«
»Alles klar, meine echten Eltern wurden auf der Suche nach Ambrosia von Außerirdischen entführt und lungern jetzt in einer Art Zwischenwelt herum – und meine jetzigen Eltern haben mich auf ihrer Türschwelle gefunden und mich für ein Geschenk des Himmels gehalten.« Ich sah ihn wütend an. »Du musst mit deinen Hirngespinsten fertigwerden, Simon. So ein früher Verlust der Eltern kann ein tiefes Trauma auslösen. Aber die Schuld hat ganz bestimmt
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