Holunderliebe
kümmerte.
Linde.
Natürlich, darauf hätte ich gleich kommen können. Simon hatte ja erzählt, dass seine Familie seit Jahrhunderten Kräuter anbaute. Ich stellte fest, dass es diesen Kräuterladen schon im 14. Jahrhundert gegeben hatte. Irgendwann im 12. Jahrhundert fand ich den letzten Hinweis auf die Familie auf einer Votivtafel in einer Kirche. Ging man noch weiter zurück, verlor sich die Spur der Lindes im Dunkel der Geschichte …
Einige Minuten lang saß ich einfach nur da und starrte in die Dunkelheit. Bis jetzt war ich der Meinung gewesen, dass meine überspannte Phantasie dem Adeligen Thegan ähnliche Gesichtszüge wie dem kräuterkundigen Simon Linde gegeben hatte. Schwarze Locken, hohe Wangenknochen, schmale Schultern und eine hohe Gestalt. Dazu auffällig helle Haut und lange, schmale Hände. Was aber, wenn das nicht einer Laune meines Gehirns entsprungen war, sondern einem sehr dominanten Gen? Wenn Simon Linde ein Nachfahre von Thegan war?
Sei jetzt nicht albern, Lena!, schalt ich mich. Nach ein paar lebhaften Träumen glaubst du, dass ein netter junger Mann, den du zufällig kennengelernt hast und den du sehr sympathisch findest, von einem mittelalterlichen Kämpfer abstammt, der dich in deinen merkwürdigen Träumen heimgesucht hat? Und Simon selber sollte das nicht wissen? Das war mehr als unwahrscheinlich.
Langsam richtete ich mich auf, streckte meinen Rücken, klappte mein Laptop zusammen und trat ans Fenster. Die Sterne verblassten schon, und am Horizont war ein heller Streif zu sehen, der den nahenden Morgen ankündigte. Es wurde Zeit, in mein eigenes Leben zurückzukehren – und die Sache mit dem zerstörten Buch zu regeln.
Ich betrachtete den Garten, in dem die Vögel um die Wette sangen und die Frühlingsblumen in voller Blüte standen. Weiter hinten sah ich die Silhouette der Klosterkirche, die seit dem 9. Jahrhundert noch einige Umbauten erlebt hatte. Die Kirche, wie Thegan sie kannte, stand nicht mehr – ebenso wenig wie die Klosterstadt, die sich so eng daran geschmiegt hatte. Damals war hier, wo jetzt die Pension stand, noch offenes Feld gewesen. Das galt auch für das Haus und die Beete der Lindes. Es lag nicht so weit weg, dass es einsam gewesen wäre. Aber auch nicht so nah an der Stadt, dass man ständig fremde Menschen grüßen musste. Eigentlich genau der Ort, den man sich als junge Familie aussuchen würde.
Ich hörte, wie unten im Frühstücksraum die Teller klapperten, und wandte mich vom Fenster ab, um ins Bad zu gehen. Erst als mir das heiße Wasser in einem dicken Strahl auf den Kopf prasselte, fühlte ich, wie die Träume und Gedanken der Nacht von mir abfielen. Schon als ich mich abtrocknete, kam es mir so vor, als sei ich von einem Traum erwacht, der keinen Einfluss mehr auf mein Leben hatte.
Ich kramte ein T-Shirt aus meiner Tasche, stieg in die dünnen Stoffschuhe, die endlich wieder trocken waren, schulterte meine Tasche und machte mich auf den Weg in den Frühstücksraum. Es war an der Zeit, endlich mit dem Rest meines Lebens anzufangen.
Die Wirtin sah mir stirnrunzelnd entgegen. Noch bevor sie etwas sagen konnte, lächelte ich und sagte: »Können Sie sich das vorstellen? Ich bin gestern einfach noch einmal eingeschlafen! Das Klima hier am See macht so unglaublich müde. Ich hoffe, ich habe Ihnen mit meiner ungeplanten Verlängerung meines Urlaubs keine Unannehmlichkeiten bereitet.«
Sie konnte so früh am Morgen wohl nicht mit meiner Redseligkeit umgehen. »Und? Reisen Sie heute ab?«, knurrte sie stattdessen. »Dann bringe ich Ihnen gleich die Rechnung. Und dieses Mal wäre es nett, wenn das Zimmer dann auch wirklich frei werden würde. Um zehn möchte ich es putzen. Ist das in Ordnung?«
»Aber sicher – ich habe es schon geräumt, Sie können sofort loslegen«, erklärte ich, schnappte mir eine Brezel vom Büfett und holte mir eine herrliche Tasse Kaffee, die ich mit Genuss an meinem Tisch trank.
Keine Ahnung, woher mein Optimismus an diesem Morgen kam. Aber mir kam es zumindest so vor, als ob mein Weg wieder klar und deutlich vor mir lag: Ich wollte diesen ganzen Schlamassel mit dem alten Buch und dem Walahfrid-Manuskript möglichst schnell aus dem Weg räumen. Und dann dieses Studium beenden, egal ob mit akademischen Ehren oder einem Rauswurf. Denn es konnte durchaus sein, dass Simon und Erik völlig zu Recht erkannt hatten, dass ich nicht für eine akademische Karriere geschaffen war. Vielleicht sollte ich wirklich alles daransetzen,
Weitere Kostenlose Bücher