Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Tempel
Vom Netzwerk:
meinem Zimmerfenster. Ich blinzelte und versuchte zu begreifen, was eben geschehen war. Offenbar hatte ich schon wieder eine dieser Visionen gehabt, die sich mir zu den unpassendsten Zeiten aufdrängten.
    Plötzlich setzte ich mich kerzengerade hin. Das Kraut. Die feinen gefiederten Blättchen. Waren das womöglich die winzigen Pflänzchen, die ich kürzlich im geheimnisvollen Beet des Hortulus gesehen hatte? Mit aller Kraft bemühte ich mich darum, mich an den Traum zu erinnern. Waren diese Samen nicht alle verbraucht? Verschwommen spuckte mein Hirn die Bilder von Thegan aus, der unter dem Steinfußboden seiner Kammer nach diesen Kügelchen suchte. Hatte er doch noch welche gefunden? Aber wie hatten diese Samen bis heute überlebt und waren im Nachbau des Beetes von Walahfrid gelandet? Doch wie sehr ich mich auch anstrengte, auf diese Frage fand ich keine Antwort.
    Mit einem Kopfschütteln schaltete ich endlich das Lämpchen auf meinem Nachttisch an und sah auf die Uhr.
    Zwei Uhr nachts.
    Der Wirtin hatte ich vor mehr als zwölf Stunden Bescheid gegeben, dass ich jetzt »sofort« aufbrechen wollte. Die Frau musste mich für eine komplette Idiotin halten. Oder hatte sie etwa an meine Tür geklopft, und ich hatte das in meinen tiefen Träumen nicht mitbekommen? Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als bis zum Morgen zu warten und dann wirklich das Weite zu suchen. Merkwürdigerweise fühlte ich mich durch meinen langen Schlaf nicht einmal erholt. Ganz im Gegenteil.
    Mein Magen knurrte vernehmlich, und ich stopfte mir zwei oder drei der trockenen Kekse in den Mund, die ich noch in meiner Tasche hatte. Dann tippte ich auf meinem Laptop unter einer Ahnenforschungsseite die Angaben ein, die ich jetzt kannte. Thegan, Bertrada, Routger, Hemma … gab es all diese Gestalten wirklich? Hatten sie irgendwelche Spuren in der Geschichtsschreibung hinterlassen? Oder waren sie allesamt nur ein Hirngespinst meiner Träume?
    Ohne große Hoffnung bemühte ich mich um möglichst genaue Angaben. So jung, wie Walahfrid in meinen Visionen gewesen war, musste es vor 830 gewesen sein. Außerdem war er später tatsächlich an den Hof des Königs gegangen, war ein enger Berater von Königin Judith geworden und hatte sich um die Kinder des Königs verdient gemacht. Eine Bilderbuchkarriere des Mittelalters, die leider dadurch geendet hatte, dass er in einem Fluss ertrank. Er hätte sich von seinem Freund Thegan zeigen lassen sollen, wie man schwimmt.
    Wenn es diesen Thegan denn wirklich gegeben hatte, dachte ich grimmig und begann mit der Suche. Natürlich hatte ich keine Ahnung, aus welchem Adelsgeschlecht er stammte, aber immerhin den Namen seines Bruders wusste ich. Das Ergebnis meiner Recherche war wenig befriedigend. Thegan war kein seltener Name im 9. Jahrhundert, es gab einige Krieger und Kämpfer, die damals gegen die Mauren angetreten waren. Aber »mein« Thegan, der sich auf der Reichenau niedergelassen hatte? Fehlanzeige.
    Also weiter. Den Fischer Routger brauchte ich natürlich nicht namentlich zu suchen. Ich erfuhr bei meinen Recherchen nur, dass der Bodensee in den Hungerjahren fast leer gefischt gewesen war. So leer, dass der Abt seinen Mönchen den Genuss von Fleisch in der Fastenzeit erlaubt hatte, da es einfach keinen Fisch mehr gab. Und ich hatte immer gedacht, dass die Überfischung ein modernes Problem darstellte.
    Gottschalk zu finden war hingegen kein Problem. Auch wenn seine weitere Geschichte bei mir für alles andere als gute Laune sorgte. Er hatte tatsächlich die Profess ablegen müssen, war aber nicht von seiner persönlichen Auslegung des Augustinus abgewichen: Gottschalk war bei seiner Meinung geblieben, dass es jedem Menschen bei Geburt vorherbestimmt sei, ob er den Zustand der Gnade erreichen werde oder eben nicht. Weshalb man mit eigenen guten Taten nicht unbedingt etwas ausrichten könne. Diesen revolutionären Gedanken konnte die Kirche nicht dulden. Sie folterten ihn, sie sperrten ihn ein, und am Schluss wurde er umgebracht. Gottschalk als echtem Freigeist war es allerdings egal, dass er ohne die Tröstungen der Kirche sterben musste: Er war sich absolut sicher, dass er bei seinem Herrn war.
    Vielleicht sollte ich probieren herauszufinden, was aus Thegans Plänen geworden war? Es konnte immerhin sein, dass er sich seinen Traum von einem Leben als Kräutergärtner erfüllt hatte. Ich begann nach der ältesten Gärtnerei zu suchen, die sich auf dieser Insel um die Anzucht von Kräutern

Weitere Kostenlose Bücher