Holunderliebe
unwiderstehlich. Ich zog mir ein weites Hemd über den Kopf und machte mich auf den Weg, um noch eine Tasse Kaffee abzubekommen. Auf dem alten Holztisch in der Mitte des Raumes stand noch die leer gegessene Schüssel, in der ich gestern den Bulgursalat durch Münster gefahren hatte.
Tom sah mich, schenkte mir eine Tasse ein und nickte in Richtung Schüssel. »Hat gut geschmeckt, vielen Dank! Und so viele Vitamine, mir ist heute noch ganz gesund zumute.« Er grinste mir zu und verschwand, während ich aus meinem Zimmer schon wieder den Klingelton meines Handys hörte. Meine Mutter zeigte heute eine wirklich überraschende Hartnäckigkeit. Ich umklammerte meine Tasse und nahm einen großen Schluck. Sie sollte sich erst einmal beruhigen, dann würde ich schon zurückrufen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte das Klingeln wieder auf – um nur wenige Sekunden später wieder loszugehen. Entnervt stand ich auf. Offensichtlich verlegte sich meine Mutter jetzt auf Telefonterror. »Was soll das denn?«, knurrte ich in den Hörer.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung. Spreche ich mit Lena Opitz?« Eine freundliche Stimme, die sicher einer älteren Dame gehörte. Ganz bestimmt nicht die Stimme meiner Mutter. Erschrocken sah ich für ein paar Sekunden den Hörer an. Dann erinnerte ich mich an meine guten Manieren.
»Verzeihen Sie. Ich habe mit jemand anderem gerechnet. Ja, ich bin Lena Opitz. Was kann ich denn für Sie tun?« Dabei bemühte ich mich um meinen nettesten Ton.
»Mein Name ist Brunhilde Reich. Sie kennen mich nicht, aber ich bin eine Bekannte Ihrer Mutter. Sie hat mir vor ein paar Tagen dieses alte Buch gebracht, das wohl durch eine Unachtsamkeit …«
»Selbstverständlich weiß ich, wer Sie sind. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dankbar ich bin, dass Sie dieses Buch wieder restaurieren können. Was kann ich denn für Sie tun?« Schon wieder dieser dämliche Satz, der so klang, als würde ich für ein Callcenter arbeiten.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann wieder die Stimme, die nun etwas unsicher klang. »Ich habe da etwas entdeckt, als ich den Einband entfernt habe, um ihn zu reparieren.«
»Entdeckt? Hat das Buch etwa Ungeziefer?«
»Nein, nein«, meinte meine Retterin lachend. »Das Buch war in einem einwandfreien Zustand, bis es durch Ihr Missgeschick auf dem Boden landete. Deswegen hat wohl noch nie jemand den Einband entfernt. Ich weiß nicht, inwieweit Sie mit den Gebräuchen im Hochmittelalter vertraut sind, wenn es um die Gewinnung von Papier und Pergament ging?«
»Das Zeug war sehr teuer?«, versuchte ich zu raten.
»Stimmt. Deswegen hat man gerne alte Schriften wiederverwendet, die man nicht mehr brauchte. Manche Schriften wurden getilgt, dann hat man einfach darübergeschrieben. Oder wenn es sich um besonders feste Papiere handelte, wurden sie zu einem neuen Einband weiterverwendet.«
»So eine Art frühes Recycling. Stimmt, ich habe mal davon gelesen. Wie heißt das noch? Palimpsest?«
»Genau. Bei der Restaurierung von Büchern tauchen immer mal wieder solche Palimpseste auf. Meistens sind die alten Schriften unleserlich oder unwichtig. Aber dieses Mal habe ich das Gefühl, es könnte sich um einen bedeutenden Fund handeln.«
»Das heißt, Sie haben in dem alten Band ein verborgenes älteres Buch entdeckt? Was ist es denn?«
»Kein komplettes Buch. Nur eine große Seite, das ist alles. Ich bin mir nicht sicher, aber die Schrift sieht für mich aus wie karolingische Minuskel. Ich kann mich aber auch täuschen, ich bin auf diesem Gebiet wirklich keine Expertin.«
Karolingische Minuskel? Wenn diese Buchbinderin auch nur im Ansatz recht hatte, dann war das ursprüngliche Buch etwa zwölfhundert Jahre alt. Aus dieser Zeit gab es nicht allzu viele Originaldokumente, dafür hatte es in Europa zu oft gebrannt, geregnet oder Krieg geherrscht. Jedes Schriftstück aus dieser Zeit war eine Kostbarkeit. Garantiert wichtiger als ein ziemlich langweiliges Buch, in dem es lediglich um Kriegsverläufe und Stammbäume ging. Ob meinen Professor so eine wissenschaftliche Entdeckung beeindrucken würde?
»Liebe Frau Reich, das konnte ich nicht ahnen. Ich steige noch heute Vormittag in den Zug, dann bin ich heute Abend bei Ihnen.«
»Dann wäre mir morgen früh eigentlich lieber«, sagte die Frau. »Ich gehe früh ins Bett, eine alte Gewohnheit. Kommen Sie doch nach dem Frühstück, und ich zeige Ihnen, was ich gefunden habe.«
»So lange möchte ich eigentlich nicht warten.
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