Holunderliebe
peinlich war. Ich erinnerte mich an Gespräche mit meinen Lehrern, die mir heute noch die Schamesröte in das Gesicht trieben.
Mein Vater schien sich mit meiner lapidaren Aussage zufriedenzugeben, doch meine Mutter runzelte die Stirn. »Kann man so eine alte Schrift überhaupt leserlich machen, ohne die andere zu zerstören? Ist das nicht ein Risiko, das ihr da eingeht? Was, wenn das Buch sich nicht mehr wiederherstellen lässt?«
Beruhigend legte ich meine Hand auf die ihre. »Mama, jetzt zerbrich dir nicht meinen Kopf. Es geht im Moment nur darum, sich die Sache mal anzuschauen.« Um sie abzulenken, wechselte ich das Thema. »Wie geht es euch denn? Was macht der Kampf gegen die Brombeeren hinten im Garten?«
Mein Vater lachte. »Es ist noch so früh im Jahr, dass wir den Kampf noch gar nicht wiederaufgenommen haben.«
Den Rest des Abends verbrachten wir mit Erzählungen von den Marotten meiner Mitbewohner, von meinem Ärger mit Erik und meinem Verdruss mit dem Professor an meiner Universität. Dazu gab es mehrere Kannen feinen Kräutertee, den meine Mutter ungefragt immer wieder nachschenkte. Bis sie endlich auf die Uhr sah, die Hand vor den Mund schlug und erklärte: »Es ist schon nach Mitternacht! Ich muss morgen um acht vor meiner Klasse stehen. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen!«
Sie küsste mich noch einmal zärtlich und verschwand dann. Mein Vater sah mich auf einen Schlag ernst an. »Ist es wirklich nichts Wichtiges, was ihr da in diesem Buch entdeckt habt? Oder willst du nur wieder einmal, dass sich deine Eltern keine Sorgen machen?«
Ertappt. Ich grinste ihn schuldbewusst an. »Selbst wenn es so wäre: Lass mir doch die Genugtuung, dass ich euch einmal nicht in schlaflose Nächte gestürzt habe. In Ordnung?«
Mein Vater musterte mich mit nachdenklicher Miene. »Du weißt, dass du uns wegen all deiner Probleme jederzeit anrufen kannst, oder? Gemeinsam lösen wir jedes Problem, mach dir keine Gedanken!« Er zog die eine Augenbraue in die Höhe. »Auch wenn ich den Diebstahl eines alten Buches aus der Institutsbibliothek ein wenig bedenklich finde.«
Gerührt schlang ich meine Arme um ihn. Es mochte ja sein, dass sie ein wenig überbeschützend waren. Und meinen Kinderglauben an Eltern, die jede Widrigkeit des Lebens ausräumen konnten, hatte ich schon seit geraumer Zeit verloren. Aber es war unendlich wohltuend, dass es immer noch zwei Menschen gab, die einfach alles tun würden, um mein Wohlergehen zu sichern.
Ich gab ihm einen Gutenachtkuss und machte mich dann auf den Weg in mein Kinderzimmer. Die Wände zeigten immer noch meine Stationen auf dem Weg zum Studentendasein. Ein Poster aus den Anfängen von Tokio Hotel, ein anderes von einem Pferd auf einer Wiese. Fotos von mir auf Mallorca, beim Schüleraustausch nach Frankreich oder mit meiner Freundin in den Reiterferien. Nichts Besonderes, aber eine glückliche Kindheit, ganz bestimmt.
Ich klappte meinen Laptop auf, übertrug die Daten der Bilder, die ich heute Nachmittag gemacht hatte, vom Handy auf die Festplatte und öffnete das erste. Mit ein wenig Mühe entzifferte ich den lateinischen Text und gab den Anfang in die Suchmaske im Internet ein. Erleichtert stellte ich fest, dass mehrere deutsche Übersetzungen kursierten, was mir ersparte, den Text selbst ins Deutsche zu übertragen.
Zahlreich gewiss sind Zeichen und Vorzug des ruhigen Lebens,
nicht das Geringste ist es jedoch, der Rosenstadt Paestum
Kunst sich zu weihn in der Arbeit des fruchtbaren Gottes Priapus.
Was für Land du immer besitzest, und wo es sich finde,
sei’s, dass auf sandigem Strich nur Steine unfruchtbar lasten,
oder es bringe aus fetter Feuchte gewichtige Früchte,
liegend auf ragenden Hügeln erhöht oder günstig im weiten
niedrigen Feld oder lagernd geschmiegt an die Lehre des Tales –
nirgends weigert es sich, die ihm eignen Gewächse zu zeugen.
Dem Autor schien es darum zu gehen, dass man nicht auf der faulen Haut liegen, sondern besser etwas anbauen sollte. Denn egal, welcher Boden sich einem bietet: Es gibt immer eine passende Frucht. So weit, so gut und richtig. Aber wer hatte es für nötig befunden, so etwas in Gedichtform zu fassen und der Nachwelt zu hinterlassen? Und wann?
Ich recherchierte weiter im Internet herum und erfuhr, dass es sich um ein Gedicht aus dem 9. Jahrhundert handelte, verfasst von Walahfrid Strabo, einem Mönch, der am Bodensee einen Garten mit Heilkräutern angelegt und diesen haarklein beschrieben hatte. Und damit
Weitere Kostenlose Bücher