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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Tempel
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sofort dieses alte Gemäuer sehen.
    Wenige Augenblicke später stellte ich den Golf auf dem Parkplatz ab und machte mich auf den Weg zu den Gebäuden, die ich hinter ein paar Bäumen erkennen konnte. Zusammen mit einer kleinen Touristengruppe lief ich durch den stärker werdenden Regen und sah mir alles genau an. Es war schwer, sich vorzustellen, dass hier eines der wichtigsten Klöster des Mittelalters gestanden hatte. Sicher, die Kirche war immer noch groß und die Gesamtanlage beeindruckend.
    Ein wenig abseits sah ich einen alten Friedhof. Ich setzte mich kurzerhand von den wissbegierigen Rentnern ab und schlenderte zu den alten Grabsteinen hinüber. In einer Ecke streckte ein vertrockneter Holunderbusch seine kahlen Äste in den Regen. Er sah nicht so aus, als ob er in diesem oder irgendeinem anderen Frühling ausschlagen würde.
    Mit dem Fuß schob ich etwas altes Herbstlaub von einem Grab und ärgerte mich ein wenig über mich selber. Warum nur hatte ich unbedingt herkommen wollen? Hier gab es nichts zu sehen, meine Eltern hatten recht gehabt. Noch dazu lief mir der eiskalte Regen den Rücken hinunter, und in den dünnen Schuhen, die ich heute früh angezogen hatte, fühlten sich meine Zehen wie Eisklumpen an. Der blaue Himmel hatte mir bei meiner Abreise vorgegaukelt, dass der Frühling schon in voller Blüte stand. Dafür musste ich jetzt zahlen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob in meinen Taschen oder auf der Rückbank wenigstens eine dickere Jacke oder ein Pullover lag. Aber ich musste mir eingestehen, dass ich völlig ignoriert hatte, dass das Wetter auf der Reichenau schlecht sein könnte. Selten dämlich.
    Seufzend drehte ich mich um. Hinter einem Zaun lag ein kleiner Garten mit ordentlich angelegten Beeten, in denen verschiedene Pflanzen das erste zarte Grün des Frühlings zeigten. Obwohl inzwischen meine Zähne vor Kälte klapperten, trat ich etwas näher.
    Ein Schild erklärte mir, dass ich vor einer Rekonstruktion des Kräutergartens von Walahfrid Strabo stand – angelegt im Jahr 1991. Angeblich waren alle Pflanzen in diesem Garten enthalten, lediglich der Schlafmohn sei durch den harmloseren Ziermohn ersetzt worden. Neugierig betrat ich das Gärtchen. Es bestand aus acht rechteckig angeordneten Beeten, die von sechzehn »halben Beeten« umgeben waren. Ohne weiter auf die Kälte zu achten, sah ich mich weiter um und las die Schilder an den einzelnen Beeten. Poleiminze, Eberraute, Rettich und Marrubium. Bei manchen Pflanzen wusste ich sofort, worum es sich handelte – die Eberraute wird wegen ihres Dufts auch »Cola-Kraut« genannt, ähnlich wie Liebstöckel als »Maggi-Kraut« zu Ruhm gekommen war.
    Ein heftiger Windstoß fuhr über die offene Fläche zwischen Kirche und Garten und brachte noch mehr Regen. Mir wurde bewusst, wie kalt mir war. Auch Walahfrid Strabos Kräutergärtchen konnte mich jetzt nicht mehr ablenken. Ich nahm mir vor, mich lieber morgen genauer umzusehen.
    Dann ging ich, so schnell es eben ging, zurück zum Parkplatz, drehte die Heizung des Golfs auf die höchste Stufe und fuhr weiter, bis ich ein Schild entdeckte, das zu einer Pension gehörte. Ein kleines Zimmer mit geblümten Vorhängen und ein Bett mit einer dicken weichen Decke war alles, was ich jetzt brauchte – und genau das bot mir die nette Wirtin mit dem Pagenkopf auch an. Ich beschloss, ein oder zwei Stündchen zu schlafen, bevor ich mich auf die Suche nach einem Abendessen machen wollte. Also schmiss ich meine nasse Kleidung schnell auf einen Stuhl und rollte mich unter der Decke zusammen, um wieder warm zu werden. Innerhalb von wenigen Augenblicken hatte mich ein tiefer Schlaf übermannt.

4.
    Frühling, du Anfang des kreisenden Jahres
und Schmuck seines Laufes!
    D er Himmel spannte sich blassblau über der Insel, als der hochgewachsene, schlanke Mann langsam in Richtung des Ufers ging. Er bemühte sich, seinen Schritt etwas abseits der Straße zu setzen, die voller Schlamm und Unrat war. Ein schwieriges Unterfangen, denn die Häuser der Klosterstadt standen nahe beieinander. Knochen von Tieren, Fischköpfe und die Fäkalien von Menschen, Schweinen und Ziegen vermengten sich mit dem schlammigen Erdreich zu einem unsäglich stinkenden Weg, der erst im Sommer für wenige Wochen halbwegs erträglich sein würde.
    In einem Hof wurden lautstark Kessel gehämmert, in einem anderen flocht eine Korbmacherin geduldig an einer großen Reuse. Doch der dunkel gelockte Mann hatte kaum Augen für das Treiben, das

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