Holunderliebe
wenn du jetzt schon deinen Professor mit ins Boot holst? Ihm von deinem Fehler erzählst – und von der Entdeckung, die du gemacht hast? Wenn er die Chance auf einen eigenen wissenschaftlichen Erfolg wittert, dann könnte es doch sein, dass er darüber hinwegsieht, wie dieses Schriftstück aufgetaucht ist.« Er sah mich fragend an. »Wäre das nicht eine gute Idee?«
»Wunderbar!«, jauchzte meine Mutter. »Dass ich nicht von selbst darauf gekommen bin. So würden sich doch alle Probleme lösen!«
Mir war klar, dass die beiden wahrscheinlich wirklich den elegantesten Weg aus meinem Dilemma gefunden hatten. Und doch widerstrebte es mir, diesem arroganten Professor den ganzen Ruhm für »meine« Entdeckung zu überlassen. Immerhin hatte ich selber mit vielen blauen Flecken dafür bezahlt. Außerdem hatte ich das Gefühl, als würde ich selbst mehr über dieses Gedicht herausfinden können als irgendjemand anders. Ein Gefühl, das ich mit absolut nichts untermauern konnte. Warum sollte eine kleine Geschichtsstudentin denn mehr herausfinden als ein Professor?
Ich versuchte es mit Logik, nicht mit Gefühlen. »Das wäre eine tolle Idee, wenn ich mir ganz sicher sein könnte, dass das Schriftstück echt ist. Was aber, wenn ich in eine Sackgasse gerannt bin und mich total täusche? Dann stehe ich mit meinem zerrissenen Buch da und einer peinlichen Fehleinschätzung. Das will ich vermeiden. Wenn ich feststelle, dass Handschriften von diesem Mönch komplett anders ausgesehen haben, dann kann Brunhilde das Buch ja immer noch zusammensetzen, und ich bringe es in die Bibliothek, ohne dass jemand auch nur eine Kleinigkeit davon mitkriegt.« Das klang sogar in meinen Ohren logisch.
Mein Vater nickte langsam. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du dafür zum Bodensee fahren musst. Dort wird es kaum eine Originalschrift des Mönchs zum Schriftenvergleich geben. Aber wenn du meinst, es dient der Wahrheitsfindung, dann hast du meinen Segen.«
Damit war die Sache entschieden. Meine Mutter würde sich in so einer Sache nie gegen meinen Vater stellen. Warum auch? Blieb nur noch, der Buchbinderin einen Besuch abzustatten und ihr von meinen Vermutungen zu erzählen.
Brunhilde Reich wurde für einen Augenblick blass, als ich ihr von dem möglichen Wert ihres Fundes erzählte, fing sich aber schnell wieder. »Ich möchte es trotzdem nicht in einen Safe stecken. Meine Werkstatt hat die perfekte Luftfeuchtigkeit für den Erhalt von alten Schriften – und seien wir ehrlich: Niemand vermutet bei mir einen besonders großen Wert. Ich denke, das Pergament ist bei mir so sicher wie in Abrahams Schoß.«
Da musste ich ihr recht geben. Ich erzählte ihr von meinen Plänen, auf die Reichenau zu fahren und nach den Ursprüngen dieses Gedichts zu suchen.
Die Buchbinderin sah mich verwundert an. »Was erhoffst du dir davon, Lena? Wahrscheinlich gibt es dort wirklich nur alte Steine.«
»Ich weiß. Es ist nur ein Gefühl, aber ich bin mir sicher, dass ich dort erfahren werde, ob dieses Gedicht wirklich so alt ist, wie ich annehme. Nennen Sie mich verrückt – aber ich muss einfach dorthin.«
»Manchmal muss man seinen Gefühlen folgen«, meinte sie. »Auch wenn ich mir wirklich nicht vorstellen kann, wie du ausgerechnet dort etwas erfahren willst. Die Wahrheit über unseren Fund liegt womöglich ganz woanders verborgen. Findest du nicht die Frage viel spannender, warum jemand im 16. Jahrhundert ein siebenhundert Jahre altes Pergament als Bucheinband verbraten hat? Das war schon damals ein wertvolles altes Schriftstück.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist kein christliches Werk, sondern nur ein Gedicht über Kräuterkunde. Offensichtlich wurde das als unwichtig empfunden.«
Damit verabschiedete ich mich. An diesem Abend redeten meine Eltern und ich weder über alte Schriftstücke noch über die Reichenau. Und als ich am nächsten Morgen in den alten Golf meiner Mutter stieg, schlief sie noch. Aber mich konnte nichts mehr halten, ich war einfach zu neugierig, was mich am Entstehungsort meines Gedichtes erwartete. Wenn es denn wirklich der Entstehungsort war.
Die Sonne hatte noch nicht ihren höchsten Punkt erreicht, als ich über den Damm auf die Reichenau fuhr. Die Straße führte an Feldern und Häusern vorbei bis an das Ende der Insel. Schneller als erwartet sah ich das Schild »Kloster«, das nach rechts wies. Obwohl in diesem Augenblick ein leichter Nieselregen einsetzte, konnte ich mich nicht beherrschen: Ich musste
Weitere Kostenlose Bücher