Holunderliebe
lauschte in das Dunkel.
Die dicken Mauern ließen kein Geräusch herein. Es war so still, dass er sein eigenes Herz schlagen hörte. Noch dazu fühlte sich seine Wunde an, als würde unter der dünnen Haut eine Unzahl von Ameisen ihr Unwesen treiben. Er legte die Hand auf seine Seite, da er das Gefühl hatte, die Narbe würde gleich wieder aufplatzen und stinkende Körperflüssigkeiten freigeben. Sacht spürte er das Pochen einer Ader unter seiner Hand. Mit einem leisen Seufzer erhob er sich und ging möglichst leise zum Ausgang.
Als er das Kloster verließ, ertönte die Glocke, die anzeigte, dass die Zeit der Vigilien gekommen war. Jetzt standen die Mönche auf und verbrachten den Rest der Nacht in stiller Meditation. Erst zum Sonnenaufgang würden sie in der Laudes einen Gesang zum Lob Gottes anstimmen und den neuen Tag begrüßen.
Ein Blick zum Himmel zeigte Thegan, dass der Mond noch hoch stand. Es würde einige Zeit dauern, bis der neue Tag anbrach und das Sonnenlicht seinen dunklen Gedanken Einhalt gebieten würde. Langsam machte er sich wieder auf den Weg zum Ufer des Sees. Seine nächtlichen Spaziergänge der letzten Wochen hatten ihn gelehrt, dass unten am Hafen das Leben schon lange vor Sonnenaufgang begann. Die Fischer fuhren hinaus auf den See, wo sie mit Lampen versuchten, ihre Beute anzulocken.
Vorsichtig setzte Thegan einen Fuß vor den anderen. In der Dunkelheit war er schon öfter über einen Stein gestolpert und hatte damit für reichlich Schmerzen in seiner Seite gesorgt. Ob dieser Walahfrid mit seinen Kräutern wirklich helfen konnte? Der Mönch wurde von den anderen Bewohnern des Klosters behandelt, als wäre er etwas Außergewöhnliches – und er schien auch mehr Freiheiten zu genießen, als sie einem jungen Mönch so kurz nach der Profess eigentlich zustanden. Thegan nahm sich vor, möglichst bald nach dem Grund für die bevorzugte Behandlung zu fragen. Nur, wer konnte ihm da eine Antwort geben? Der Abt wurde erst in einigen Tagen zurück erwartet.
Die Sterne glänzten am Himmel, als er das Ufer des Sees erreichte. Eine dicke Wiese reichte wie ein Teppich direkt ans Wasser. Sinnend sah Thegan auf die dunkle Oberfläche des Sees. Seine Narbe pochte und schmerzte weiterhin unerträglich, und die Kälte des Wassers erschien ihm einladend wie selten zuvor. Mit einem schnellen Entschluss warf er Obergewand, Wams und Beinkleider von sich, löste die Riemen seiner Schuhe und stand einen Augenblick lang fröstelnd in der Frühlingsnacht. Allein die Schmerzen sorgten dafür, dass er seinen Entschluss keinen Augenblick infrage stellte.
Mit zwei Schritten stand er bereits knietief im Wasser und spürte, wie der weiche Schlamm zwischen seinen Zehen hervorquoll. Noch ein Schritt und er fing an, mit kräftigen Zügen zu schwimmen. Die Kälte des Wassers raubte ihm fast den Atem. Der Winter lag noch nicht lange zurück, erst seit ein paar Tagen entfaltete die Sonne wieder ihre wärmende Kraft. Der See wurde von den eisigen Flüssen und Bächen aus den Bergen gespeist, und Thegan kam es so vor, als würde er für einen Augenblick in Schnee oder flüssigem Eis schwimmen. Trotzdem ließ er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er schwamm mit kräftigen Zügen auf die Mitte des Sees zu. Die schneidende Kälte sorgte dafür, dass seine Wunde nicht mehr schmerzte, und er fühlte sich so gesund wie schon lange nicht mehr. Er drehte sich auf den Rücken, sah in die Sterne und auf den zunehmenden Mond. Derselbe Himmel wie im Land der Mauren und doch eine andere Welt.
Trotz der Kälte erschienen vor seinem inneren Gesicht wieder die Bilder der brennenden Häuser und der angstvollen dunklen Augen, die ihn im Moment des Todes anstarrten. Einen Augenblick lähmte ihm das die Arme, und er spürte, wie ihn die dunklen Tiefen des Sees hinabzogen. Aber dann schüttelte er den Kopf, änderte seine Richtung und schwamm weiter – in Richtung des Klosterdorfes. Es dauerte nicht lange, und er sah die Fischer, die sich auf ihre tägliche Arbeit vorbereiteten.
An einem der Boote stand eine junge Frau, deren Haut im Schein der Fackeln golden glänzte. Ein Tuch bedeckte ihre Haare, und sie bewegte sich schnell und geschickt zwischen den Netzen und Seilen. Neugierig schwamm Thegan etwas näher und verharrte ganz in ihrer Nähe, hinter einem Pfahl, der hier in den Grund des Sees gerammt war.
Sie ging ihrem Vater zur Hand. Ein Fischer, gebaut wie einer der Männer aus einer nordischen Saga. Thegan hatte ihn schon
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