Holunderliebe
sich um ihn herum abspielte, sondern sah stur auf den Boden – auch dann, als ihn der Führer eines schweren Ochsengespanns mit Flüchen belegte, weil er nicht wie die anderen Menschen beiseitesprang.
Unter seinem braunen Mantel trug der Fremde einen dunkelblauen Überwurf, der ebenso wertvoll aussah wie seine Beinkleider und Schuhe. Die vielen Menschen, die der schöne Frühlingstag auf der Bodenseeinsel nach draußen getrieben hatte, betrachteten ihn neugierig, doch er schien von ihnen keinerlei Notiz zu nehmen. Erst als er die Klosterpforte erreichte, hob er seine Augen vom Boden und sah den Portarius lächelnd an. »Sei gegrüßt!« Der Mönch deutete wortlos auf die Pforte, um dem Gast Einlass zu gewähren. Offensichtlich war er heute nicht das erste Mal hier.
Im Gegensatz zum Trubel auf den Straßen der Klosterstadt herrschte im Inneren des Klosterbezirks traumhafte Ruhe. Ohne zu zögern, ging der Fremde auf einen Garten zu, der sich an eine Mauer drängte. Hinter einem kleinen Zaun stand ein junger Mann, dessen Habit ihn als schlichten Mönch auswies.
»Sei gegrüßt, Thegan!«, rief der Mönch und winkte ihm zu.
»Walahfrid! Was treibst du an diesem schönen Tag im Garten?«
»Ich pflanze ihn wie schon letztes Frühjahr neu an – aber dieses Mal gedenke ich, in einem umfassenden Werk genau zu beschreiben, wie die einzelnen Kräuter wirken.« Der Mönch betrachtete die verschiedenen Beete und nickte zufrieden. »Ich werde über zwanzig Kräuter in mein Gärtchen aufnehmen.« Er legte seine Hacke zur Seite und kam näher. »Aber du wirst dich kaum mit mir über die Geheimnisse der Gartenarbeit unterhalten wollen. Wie geht es deinen Wunden?«
Thegan zog eine leichte Grimasse. »Ich fürchte, ich werde nie wieder so beweglich sein wie vor meiner Zeit bei den Mauren. Bei jeder eiligen Bewegung fährt mir der Schmerz in die Glieder. Dabei bin ich jetzt schon fast vier Wochen hier – und der Infirmarius tut, was er kann.«
»Was nicht immer viel ist«, meinte der Mönch lächelnd. »Seine Ideen enden meist nach dem Aderlass und ein paar hilfreichen Gebeten. Soll ich einen Blick darauf werfen? Nicht mehr lange und ich habe Blätter des Odermennig, mit der wir die Wunde behandeln können. Sie haben sich schon oft als hilfreich erwiesen, wenn das Messer eines Feindes eine zu dauerhafte Erinnerung hinterlassen hat.« Walahfrid winkte ihn näher heran. »Komm mit in meine Kammer.«
Zögernd näherte sich Thegan. »Woher stammt deine Erfahrung? Du siehst mir noch recht jung aus?«
Walahfrid lächelte, während er ihm mit wehenden Gewändern vorausging. »Das sagen einige. Aber ich wurde schon als kleiner Knabe von meinem Vater in die Obhut des Klosters gegeben. Und der Abt hat mich damals zur Ausbildung nach Fulda geschickt. Dort hat Rabanus Maurus meine Ausbildung überwacht – und ich kann mir nicht vorstellen, dass es im gesamten Reich Karls des Großen einen besseren Lehrer geben könnte!«
Sie betraten einen kleinen Raum, in dem einige getrocknete Kräuter von der Decke hingen und für einen angenehmen Geruch sorgten. Thegan fühlte sich sofort wohl und atmete tief durch. Doch Walahfrid wollte offensichtlich keine Zeit verlieren. Er deutete auf den breiten Gürtel des Adeligen. »Dann zeig mir, was dir Beschwerden bereitet.«
Thegan zögerte. »Du kannst mir wirklich helfen?«, fragte er misstrauisch.
»Ob meine Hilfe wirkt, liegt in der Hand des Höchsten. Aber es könnte sein, dass ich die richtigen Kräuter kenne, um deine Leiden zu mildern«, erklärte der Mönch. Erst jetzt bemerkte der Adelige, dass der junge Mann leicht schielte, insbesondere jetzt, wo er sein Gegenüber konzentriert ansah.
Langsam öffnete Thegan seinen Gürtel und legte erst den Umhang und dann sein Obergewand ab. Selbst im Halbdunkel der kleinen Kammer wirkten die Narben rot und entzündet und glänzten ungesund.
Walahfrid hob seine Hände und drückte leicht auf eine Stelle, an der sich die neue Haut über den Rippenbogen spannte. Das untere Ende der Narbe verschwand in den Beinkleidern. Walahfrid deutete darauf. »Darf ich fragen, wie weit diese Verletzungen reichen?«
Ohne ein weiteres Wort schob Thegan sein Beinkleid nach unten. Die Narben wurden schmaler und sahen weniger schmerzhaft aus – aber sie endeten erst kurz vor dem Knie. Wieder fuhr der Mönch mit seinen Fingern über die Wunde.
»Du hast Glück, dass die Verletzung in der Leiste nicht tiefer ist«, bemerkte er. »Das Blut fließt dort beinahe
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