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Holunderliebe

Holunderliebe

Titel: Holunderliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Tempel
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für eine Kämpferin du bist. Im nächsten Frühjahr werden wir mit unseren Kindern in den Mai tanzen, und alle werden uns bestaunen wie ein Weltwunder! Lass mich nicht allein, Rothild!«
    Aber sie hörte nur den flachen Atem ihrer Freundin, der immer leiser wurde, bis er einfach aussetzte. Rothild war bestimmt nicht der erste Mensch, dem Hemma beim Sterben zusah. Aber dieses Mal wirkte es so beiläufig und so leise, als hätte Rothild sich durch einen Hinterausgang aus dem Leben geschlichen. Seit der Geburt ihrer kleinen Tochter hatte sie kein Wort mehr gesagt, die letzte Tat ihres Lebens war tatsächlich das kleine Mädchen gewesen.
    Hemma griff ohne ein weiteres Wort in Rothilds Gesicht, drückte ihr die Lider zu und erhob sich. Sie legte ihren Arm um Reginolf und murmelte: »Du wirst dir eine Amme suchen müssen.«
    Dann verließ sie das Haus, das mit dem Geruch von Trauer und Tod erfüllt war. Beim Hinausgehen fiel ihr Blick noch einmal auf den kleinen Winidolf. Er hatte sich irgendwann in der Ecke zusammengerollt und war eingeschlafen, sein Gesicht sah friedlich und voller Vertrauen in die Zukunft aus. Wie schrecklich würde sein Erwachen sein, wenn er feststellen musste, dass der Tod die Welt, wie er sie kannte, aus den Angeln gehoben hatte.
    Die Tür fiel hinter ihr zu, und für einen Augenblick blieb Hemma bewegungslos stehen. Sie spürte, wie die kalte Hand der Angst nach ihrem Herzen griff. Wie konnte sie nur so sicher sein, dass sie die Geburt überstehen würde, wenn sie doch sah, wie leicht ihre Freundin gestorben war? Hatte Routger womöglich recht, wenn er davon gesprochen hatte, die letzten gemeinsamen Wochen mit ihr genießen zu wollen?
    Sie hob die Hand, um die Tränen von der Wange zu wischen, als eine Gestalt aus dem Schatten zu ihr trat und sie in die Arme schloss. »Walahfrid hat mir gesagt, dass es um deine Freundin nicht gut bestellt ist«, hörte sie Thegans tiefe Stimme sagen. »Ist es vorbei?«
    Hemma konnte nur nicken. Und mit einem Mal brach die Angst der letzten Stunden aus ihr heraus. Sie warf sich an Thegans Brust und schluchzte so heftig, als wollte sie alle Tränen der Welt auf einmal weinen.
    Thegan streichelte hilflos ihren Rücken und wartete ab, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Sie schmiegte sich an seine Brust und hielt sich an ihm fest.
    »Was ist passiert?«, fragte er schließlich.
    Hemma zuckte mit den Schultern. »Die Geburt hat zu lange gedauert. Irgendwann ist das Kind auf die Welt gekommen, aber Rothild hat es gar nicht mehr wahrgenommen.« Wieder begann sie zu schluchzen. »Und sie hat erst so spät nach mir rufen lassen …«
    »Bestimmt wollte sie dich nicht erschrecken, wo du doch selber so kurz vor der Niederkunft stehst.« Er streichelte weiter ihren Rücken.
    »Was für ein Blödsinn«, murmelte Hemma. »Als ob ich nicht schon Dutzende von Geburten gesehen hätte. Wie sollte es denn auch anders sein in dieser engen Stadt?«
    »Wirklich? Ich hätte gedacht, dass du ohne Mutter oder Schwester so etwas bisher noch nicht erlebt hast …«
    »Ich habe es schon öfter gehört, gesehen allerdings noch nie«, gab Hemma zu. »Aber schon wenn du das Stöhnen hörst, ist dir klar, dass die Frauen Schmerzen erdulden müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Rothild ist meine Freundin. Sie hätte mich rufen sollen.«
    »Wo waren denn ihre Schwestern? Und ihre Mutter?«
    Überrascht hob Hemma den Kopf. »Keine Ahnung. Aber du hast recht, sie hätten hier sein sollen. Wahrscheinlich wollte Rothild auch sie nicht zu sehr in Sorge stürzen. Sie hat sich ständig Sorgen um alles Mögliche gemacht, bis zum Schluss.«
    Eine Weile schwiegen sie. Es war eine kühle Nacht, und vom See stiegen feine Nebelschleier auf, die langsam durch die engen Straßen zogen. Der Sommer war vorbei.
    »Komm, wir gehen ein Stück«, sagte Thegan schließlich, legte seinen Arm um Hemmas Schultern und führte sie sacht zum Hochwart, wo die Nebel noch nicht angekommen waren. »Was ich trotzdem nicht verstehe: Woran ist sie denn letztlich gestorben?«, fragte er.
    »Verblutet. Das Leben ist am Schluss einfach aus ihr herausgelaufen. Genau wie es auch bei mir sein wird. Ich habe heute Nacht meine eigene Zukunft gesehen.« Hemma streichelte ihren Bauch. »Ich liebe mein Kind, ganz bestimmt. Aber es wird mich umbringen. Und ich kann nur beten, dass es ein Junge wird. Dann blüht ihm nicht eines Tages dasselbe Schicksal wie mir.«
    »Das weißt du doch nicht«, murmelte Thegan hilflos. »Es gibt doch

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