Holunderliebe
glauben. Aber ich habe vor ein paar Stunden der Wahrheit ins Auge sehen müssen. Und in diesem Auge war nicht ein Funke Leben.«
»Ich verbiete dir, so zu reden«, erklärte Thegan. »Du bist angestrengt und hast etwas Schreckliches erlebt. Es wird Zeit, dass du dich ein bisschen ausruhst.«
Hemma widersprach ihm nicht mehr. Er brachte sie an die Haustür und nahm ihr das Versprechen ab, sich sofort in ihr Bett zu legen. Dann stand er alleine auf der Straße und konnte die düsteren Gedanken nun auch nicht mehr fernhalten. Das Maurenkraut wirkte nicht. Es war zwar nicht schädlich – aber es hatte auch nichts ausrichten können. Die Heilung des Zimmermanns war seiner starken Gesundheit zuzuschreiben, nicht einem wundersamen Heilmittel. Mit gesenktem Haupt machte Thegan sich auf den Rückweg hinter die Mauern des Klosters. Vielleicht würde es ihm wenigstens gelingen, Routger davon zu überzeugen, ihm Hemma als Gemahlin zu geben.
Die Sonne stand noch nicht weit über dem Horizont, als Walahfrid seinen adeligen Freund im Gärtchen entdeckte. Er rupfte gerade mit beiden Händen das maurische Kraut aus, das in seinem Beet auf Kniehöhe gewachsen war und dessen Blätter jetzt im Herbst silbrig glänzten. Walahfrid raffte seine Kutte und rannte die wenigen Meter, bis er seinen Garten erreichte.
»Was machst du da? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, schrie er. »Wer gibt dir das Recht, diese Pflanze zu zerstören, noch bevor wir wissen, was sie Gutes kann?«
»Das Recht?« Thegan sah auf. »Die Samen haben mir gehört, ich habe meine Hoffnung auf diese Pflanze gesetzt, und jetzt muss ich damit leben, dass sie wirkungslos ist. Welche Hoffnung auch immer wir in den letzten Monaten gehegt haben, sie hat sich nicht erfüllt. Dieses Unkraut hat kein Recht auf einen Platz neben all diesen edlen heilkräftigen Pflanzen!«
Walahfrid legte seine Hand auf Thegans Arm. »Trotzdem solltest du sie nicht einfach ausreißen. Wir haben womöglich nur nicht den richtigen Weg gefunden, um an ihre Heilkraft zu kommen!«
»Zu spät!« Thegan sah auf das Beet, das jetzt nur noch aus kahler Erde bestand. Neben ihm auf dem Boden lag ein Haufen aus Stängeln und Blättern. Walahfrid sank auf die Knie und begutachtete den Schaden. Dann griff er an die kleinen Schoten, die sich an den Ästen gebildet hatten, und riss sie mit einer schnellen Drehung des Handgelenks ab.
»Was soll das?«, wollte Thegan wissen. »Warum willst du den nutzlosen Samen dieser nutzlosen Pflanze aufbewahren?«
Langsam öffnete Walahfrid eine der Schoten und betrachtete die kleinen braunen Kugeln, die im Inneren wohnten. »So erhalten wir uns wenigstens die Möglichkeit, diese Pflanze noch einmal zu säen«, erklärte er. »Ich finde, man sollte nicht immer alles auf einmal aufgeben.« Langsam hob er seinen Blick von den Samen und sah Thegan ins Gesicht. »Ich muss also annehmen, dass Rothild diese Nacht nicht überstanden hat? Anders ist dein Zorn auf diese Pflanze nicht zu erklären.«
»Nein. Das kleine Mädchen lebt, und wenn ich Hemma richtig verstanden habe, dann ist das dir zu verdanken. Aber Rothild hat ihre Tochter nicht mehr begrüßen können. Sie hat zu viel Blut verloren, der Tee hat offenbar nicht gewirkt. Wahrscheinlich taugt das Kraut doch nur dafür, sich zu übergeben … und das kann man jederzeit mit einem verdorbenen Fisch erreichen. Ich denke, ich sollte mich mehr aufs Gebet verlegen. Ich werde um Hemmas Wohl bitten und für ihr Seelenheil beten, wenn es keine Rettung mehr geben sollte.«
Walahfrid nestelte einen kleinen Beutel aus einer Tasche und füllte die Samen aus den Schoten hinein. »So schnell würde ich nicht aufgeben. Rothild war schon sehr schwach, als Hemma nach mir rufen ließ. Ich konnte ihr mit meinen Kräutern und einer tüchtigen Portion Schlafmohn ein wenig Kraft einflößen und die Schmerzen nehmen. Es war gut, dass sie so noch ihr Kind in die Welt hinausstoßen konnte. Aber für Rothild selbst hat dieser Kraftakt wahrscheinlich das Ende bedeutet. Es gab kaum Hoffnung für sie.« Walahfrid deutete auf den welkenden Haufen zu seinen Füßen. »Dein Kraut hätte Zauberkräfte besitzen müssen, um sie noch aus den Armen des Todes zu reißen.«
»Aber was kann ich tun, um Hemma vor diesem grausamen Schicksal zu bewahren? Wir haben nicht mehr genügend Zeit, um ein wirksames Mittel zu finden.« Verzweifelt biss Thegan sich auf die Lippen. »Selbst Hemma verliert ihren festen Glauben an einen guten Ausgang der
Weitere Kostenlose Bücher