Holunderliebe
Baby wie ein jämmerlicher Wurm – dann erklang ein kräftiger Schrei. Während die Hebamme die Nabelschnur abtrennte, fuhr Hemma herum und griff nach der Hand ihrer Freundin. »Es lebt!«, rief sie. »Und es ist ein Mädchen!«
Rothild rührte sich nicht. Hemma spürte, dass die Hand, die sie ergriffen hatte, leblos und kalt war. Sie beugte sich vor und tätschelte ihrer Freundin die Wangen, die jetzt mit kaltem Schweiß bedeckt waren. »Komm schon, Rothild. Jetzt nicht einschlafen, deine Tochter ist da! Du hast es geschafft!«
Aber Rothild bewegte sich immer noch nicht. Sie lag reglos auf dem Rücken, während ihr das Blut weiter in hellen Strömen zwischen den Beinen hervorfloss. Mit einem leisen, gewiss nicht sehr gottgefälligen Fluch drückte die Hebamme das quäkende Kind Hemma in die Arme. »Kümmer du dich um das Kleine!«, zischte sie. Dann nahm sie ein Pulver aus ihrer Tasche und streute es über Rothild aus.
Hemma rannte mit dem Kind im Arm zur Tür und rief: »Walahfrid! Wir können die Blutung nicht stillen! Hast du nicht noch ein Mittel?«
Der Mönch sprang auf und griff nach einem kleinen Tiegel, aus dem er einige getrocknete Blätter entnahm und sie in einen Topf mit heißem Wasser streute, der am Herdfeuer bereitstand. »Ich bringe gleich einen Trank«, versprach er.
Reginolf starrte Hemma nur an. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie mit ihren blutverschmierten Kleidern, dem dicken Bauch und dem schreienden Kind in den Armen wahrscheinlich beängstigend aussah. Hilflos hob sie ihm das Kind entgegen. »Es ist ein Mädchen!«, rief sie.
Hemma wickelte ein sauberes Leintuch um das kleine Mädchen und reichte es dem Vater. »Ich muss zu Rothild«, sagte sie und verschwand wieder im Zimmer, dicht gefolgt von Walahfrid mit seinem Tee.
Hier herrschte eine gespenstische Stille. Die Hebamme hatte Kräuter entzündet, deren Dämpfe wohl etwas zum Wohlbefinden der jungen Frau auf dem Bett beitragen sollten. Hemma spürte nur ein würgendes Gefühl und fühlte sich, als hätte sie genau diesen Moment schon einmal in ihrem Leben durchlebt. Sie war versucht, das winzige Fenster aufzureißen, um dem Gestank zu entkommen. Dazu murmelte die Geburtshelferin in einem fort Gebete – oder waren es Beschwörungen einer viel älteren Gottheit? Hemma war dankbar, als Walahfrid Rothild ein wenig stützte und ihr den Tee an die Lippen setzte. Hemma nahm wieder die Hände ihrer Freundin in die ihren und flüsterte: »Du musst schlucken, Rothild! Es wird alles wieder gut, aber du musst diesen Tee herunterschlucken!«
Ihre Freundin trank brav ein paar Schlucke, bevor sie mit einem leisen Kopfschütteln wieder absetzte und sich wieder in die Kissen sinken ließ.
»Ich kann nur hoffen, dass sie ausreichend von diesem Kraut zu sich genommen hat«, murmelte Walahfrid. »Ich für meinen Teil werde jetzt ins Kloster gehen und für das Wohl deiner Freundin beten, liebe Hemma. Und das solltest du auch tun – ich denke, ab jetzt liegt alles in Gottes Hand.« Er sah die Hebamme fragend an. »Oder siehst du das anders?«
Die schüttelte den Kopf. »Wenn sie diese Nacht überlebt, dann ist es ein echtes Wunder. Aber ich glaube nicht, dass heute ein Tag für Wunder ist …«
»Umso mehr müssen wir beten«, meinte Walahfrid und ging.
Hemma setzte sich wieder auf das Bett zu Rothild und streichelte ihr über die Stirn. Sie fühlte sich ungesund an, kalt und feucht. Der Atem ihrer Freundin ging flach, und sie schien die Worte, die Walahfrid gerade eben gesagt hatte, nicht gehört zu haben. Hemma fürchtete, dass Rothild schon in einer anderen Welt sein könnte.
»Lass mich nicht allein«, murmelte sie immer wieder, während sie sich im Stillen verfluchte, weil sie erst so spät von der Geburt gehört hatte. Vielleicht hätte Walahfrid, wenn er denn früher gekommen wäre, mehr für Rothild tun können?
Die Hebamme entzündete weitere Kräuter, sah dann nach dem kleinen Mädchen, das Reginolf umklammert hielt, als wolle er diesen Schatz nie wieder hergeben. Sie hielt ihr Ohr an die schmale Brust und lächelte. »Die Kleine ist stark. Wenn du bald eine Amme findest, dann kann ihr nichts passieren.«
»Aber ihre Mutter wird sich doch um sie kümmern …«, widersprach Reginolf, dem plötzlich die Stimme erstarb. Zu deutlich hatte er gehört, dass seine Rothild schon unter den Mantel des Todes gekrochen war.
Hemma legte ihrer Freundin die Hand auf die Stirn und beugte sich zu ihrem Ohr herunter: »Zeig allen, was
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