Holunderliebe
schritt. Die Wolken hatten sich verzogen, weit oben glitzerten die Sterne und legten ihr helles Band über den dunklen Himmel. Wahrhaft, die heilige Nacht war nicht mehr fern.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, bog Thegan ab und machte sich auf den Weg zu Hemmas Haus. Er wollte sie unbedingt noch sehen, egal was Routger dazu sagen mochte. Nur wenige Minuten später stand er vor der vertrauten Tür, hinter der er die Stimmen von Hemma und ihrem Vater hörte. Sie schienen sich zu streiten, wieder einmal.
Thegan hob seine Hand und schlug fest gegen die Tür. Für einen Augenblick verstummten die Stimmen, dann hörte er Routgers schweren Schritt näher kommen. Der Fischer öffnete die Tür einen Spaltbreit, doch als er den Besuch erkannte, wollte er sie gleich wieder zuschlagen. Thegan kam ihm zuvor, indem er seinen Fuß in die Tür stellte.
»Routger, wie lange willst du mich noch von deiner Tochter fernhalten? Lass mich ein, ich bitte dich!«, rief er.
»Verschwinde!«, war die ruppige Antwort.
»Du kannst mich nicht mehr aus eurem Leben verbannen«, sagte Thegan. »Du wirst bald Großvater und kannst nicht mehr verhindern, dass dein Blut sich mit dem meinen vermengt hat.«
Er hörte die schnellen Schritte von Hemma. »Du hast ihn gehört, Vater. Lass ihn ein!«, erklärte sie.
Widerwillig öffnete Routger die Tür. »Komm schon. Aber ich hoffe, du weißt, dass sich ein Besuch um diese Zeit nicht mehr schickt. Wir könnten schon schlafen.«
»So laut, wie ihr streitet, wissen sogar deine Nachbarn, dass du noch wach bist«, meinte Thegan seufzend und legte besitzergreifend einen Arm um Hemma.
»Wenn das dumme Mädchen auch darauf besteht, dass sie dich heiraten will«, knurrte Routger. »Sie sollte endlich lernen, dass meine Tochter nicht die Gemahlin eines Mannes wird, der sie in Lebensgefahr bringt.«
»Wie konnte ich ahnen, dass dein großes Geheimnis ihren Tod bedeuten könnte? Wenn du deine Tochter etwas früher in deine Ängste und Befürchtungen …«
»Jetzt hört auf damit!«, unterbrach Hemma ihn mit einem ungewohnt strengen Ton. »Seit Monaten verbringt ihr eure Zeit damit, euch gegenseitig Vorwürfe zu machen, wer mehr an meinem Unglück schuld sein könnte. Dabei sollten wir aufhören, in die Vergangenheit zu blicken, und uns endlich auf die Zukunft konzentrieren. So kurz sie für mich auch sein mag … Ich für meinen Teil wünsche mir, dass mein Sohn in einer ehelichen Gemeinschaft das Licht der Welt erblickt. Ich würde mich wohler fühlen, wenn er nicht schon zu Beginn an einer Sünde tragen muss, die er nicht selbst verschuldet hat.«
»Also?« Routger sah sie fragend an.
»Lass mich endlich Thegan heiraten!«, rief sie aus.
»Niemals«, knurrte Routger und deutete wieder auf die Tür. »Und deswegen muss ich Euer Hochwohlgeboren darum bitten, mein Haus wieder zu verlassen. Ich habe keine Verwendung und keinen Platz für ihn.«
»Aber ich habe Verwendung für ihn«, sagte Hemma. Ihre sonst so blassen Wangen waren vor Wut ganz rosig, der wollene Hausmantel, den sie in dieser kalten Nacht über ihre Schultern geworfen hatte, konnte ihren Bauch kaum noch verbergen. Die Stunde der Niederkunft konnte jederzeit kommen, schon seit einigen Tagen prophezeite die Hebamme ein kleines Christkind, wenn sie Hemma mit ihren erfahrenen Händen untersuchte.
Thegan stellte sich neben sie und nahm ihre Hand in die seine. »Seit Monaten suchst du jedes Treffen von uns zu verhindern, so als könntest du ungeschehen machen, was doch für jedermann schon offensichtlich ist. Aber warum? Ich möchte den Rest meines Lebens mit deiner Tochter verbringen, wie oft muss ich dich noch um Erlaubnis bitten?«
»Länger, als dein Atem währt«, brummte Routger unversöhnlich.
»Das ist doch Blödsinn«, erklärte Hemma, und Thegan hörte eine neue Entschlossenheit in ihrer Stimme. »Ich möchte mit dem Vater meines Kindes noch möglichst viel von der Zeit verbringen, die das Schicksal für uns beide bereithält. Und deswegen ist das hier meine letzte Bitte an dich: Entweder ich darf jetzt meine Zeit mit dem Vater meines Sohnes verbringen, oder …«
Überrascht keuchte sie auf, ihre Hand griff nach ihrem Bauch, und sie schwankte. In dieser Haltung verharrte sie für zwei oder drei Atemzüge, dann richtete sie sich wieder auf. Mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht sah sie die beiden Männer an: »Ich bin mir nicht sicher, aber womöglich hatte die Hebamme mit ihren Prophezeiungen eines Christkindes
Weitere Kostenlose Bücher