Holunderliebe
geeignet, und davon gibt es auf dieser Insel nur eine, nämlich mich.« Sie nahm einen schweren Beutel, der an der Wand lehnte, und nickte ihm zu. »Wir können gehen. Falls ich heute Nacht noch ungebetenen Besuch bekomme, bin ich im Hause Routgers wenigstens sicher.«
Damit schob sie die Tür auf und lud Thegan mit einer Handbewegung ein, ihr zu folgen. Im Schnee vor dem Haus waren außer Thegans Fußstapfen keine anderen Spuren zu sehen. »Vielleicht ist es den Dummköpfen aus der Klosterstadt heute Nacht auch zu kalt, um Jagd auf mich zu machen«, murmelte die Hebamme.
»Wie oft ist es denn schon vorgekommen?«, wollte Thegan wissen. »Stehst du denn nicht unter dem Schutz all der Familien, denen du und deine Mutter schon geholfen habt?«
»Ja, das sollte man meinen, oder?« Bertrada sah ihn von der Seite her an, während sie sich mit langen Schritten auf den Weg machte. »Ist aber nicht so. Sie vergessen ihre Dankbarkeit in der Sekunde, in der sie mir meinen Lohn geben. Und hin und wieder auch davor – dann muss ich sehen, wie ich ohne Lohn zurechtkomme.«
»Du hättest einen Handwerker aus der Klosterstadt heiraten sollen, wie die anderen Mädchen auch«, meinte Thegan lächelnd. »Dann würde dir so etwas nicht passieren.«
Sie sah angestrengt auf den Weg vor sich. »Und dann immer nur die Wäsche eine Mannes waschen, seine Kinder aufziehen und sich immer so benehmen, als würde ich alles gutheißen, was er tut? Nein, das ist nicht meine Welt. Ich liebe meine Freiheit und den Wald, in dem ich die Heilkräuter finde, die ich für meine Arbeit benötige. Dafür nehme ich auch in Kauf, dass manche Leute auf mich herabsehen. Gefährlich sind die Raunächte, denn da sind die Menschen unberechenbar. Sie haben Angst vor den Geistern, die um ihr Haus oder durch ihren Geist schleichen. Und Angst besiegt man doch am besten dadurch, dass man wild um sich schlägt.« Sie lachte bitter auf. »Spätestens dann, wenn ihre Frauen jammernd ihre Kinder zur Welt bringen, tauchen die Männer wieder bei mir auf. Hoffen, dass ich sie nicht erkenne, nicht weiß, dass sie mich im Winter oder an Walpurgis um den Schlaf gebracht haben.«
Thegan bemühte sich, mit ihr Schritt zu halten. »Und du träumst nie davon, ein Leben mit einem Mann und einer Familie zu führen?«
Ein Schulterzucken war die Antwort. »Du überschätzt, was ihr Männer zu bieten habt. Ihr sucht jemanden, der eure Lust befriedigt, das Bett und den Herd warm hält. Dafür gebt ihr Sicherheit. Aber was ist, wenn eine Frau nichts auf eure Sicherheit gibt? Dann ist euer Angebot nichts wert.«
»Mein Angebot ist größer«, erwiderte Thegan. »Ich möchte mit Hemma mein Leben verbringen. Ich liebe sie …« Er brach ab, fast so, als wäre ihm dieser Satz peinlich.
Ein leises Lachen war die Antwort. »Du, mein lieber Thegan, bist ein Narr. Das wissen alle auf der Insel. Seit einem Jahr bist du jetzt hier, willst nicht mehr bei deiner Familie arbeiten, nicht mehr in den Krieg ziehen und auch kein Mönch werden. Wir sind alle gespannt, wie lange dein Geld und die Geduld des Abtes noch reichen werden. Dann musst du wieder am wirklichen Leben teilnehmen, dann hilft dir keiner mehr.« Wieder ein Blick von der Seite. »Was planst du dann?«
»Vielleicht bleibe ich hier«, murmelte Thegan. Noch nie hatte er mit einem anderen Menschen über seine geheimen Pläne gesprochen, nicht einmal mit Hemma. »Walahfrid hat mich viel über den Anbau von Heilkräutern und ihre Pflege gelehrt. Wenn er die Sintlasau verlässt, dann wird es an vielen Pflanzen mangeln – der Infirmarius wird sich wohl kaum um die Anlage von Beeten kümmern. Also könnte ich das tun und so den Menschen viel Gutes bringen.«
Einige Schritte lang hörte man nur das leise Knirschen des Schnees unter ihren Füßen. Dann antwortete ihm Bertrada mit leiser Stimme: »Ja, das wäre wirklich ein Segen. Das, was Walahfrid mit seinem Gärtchen für die Bewohner des Klosters und der Stadt tut, wird uns fehlen. Mich hat es oft gewundert, warum sich kein anderer Bruder findet, der sich Walahfrids Wissen aneignet.«
»Nun – ich denke, unser Walahfrid ist nicht der einfachste Mensch unter dem Himmel«, meinte Thegan, während er sich den spöttischen Ton in Walahfrids Stimme vorstellte. »Es könnte sein, dass manche seiner Brüder im Glauben nicht das Opfer seines Spotts werden möchten.«
»Dabei müssten sie nur ihren schwachen Geist ein wenig bemühen, dann wäre Walahfrid weniger streng mit ihnen«,
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