Holunderliebe
Fingern.
Der Weg an der Straße kam mir inzwischen sehr vertraut vor. Die Wirtin meiner Pension traf ich noch im Frühstücksraum, wo sie gerade klappernd das Müsli und die Platten mit dem Schinken und dem Käse abräumte.
»Ich reise jetzt ab«, erklärte ich. »Können Sie mir bitte die Rechnung fertig machen?«
Sie nickte nur, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen.
Also ging ich in mein Zimmer, packte meine wenigen Kleider wieder in meine Tasche und öffnete zum letzten Mal mein Laptop, um mir die Fotos vom Manuskript anzusehen. Stirnrunzelnd ließ ich mich auf das Bett sinken. Die Wahrheit lag direkt vor meinen Augen, da war ich mir absolut sicher. Für eine Sekunde schloss ich meine Augen, aber als ich sie öffnete, wollte sich mir die Lösung noch immer nicht zeigen.
Was auch immer Walahfrid mir durch die Jahrhunderte zurufen wollte: Der Weg war zu weit, seine Worte drangen nicht mehr zu mir durch. Was auch immer ich mir eingebildet hatte, was ich durch die Kraft meiner Intuition herausfinden würde – mein Gefühl hatte mich getrogen. Und eine größere Klarheit über die Dinge, die ich in meinem Leben erreichen wollte, hatte ich auch nicht gewonnen.
Ein letzter Blick auf das Manuskript, dann klappte ich den Deckel des Laptops zu. Die Buchstaben tanzten noch einen Augenblick weiter vor meinen Augen, und mit einem Mal fühlte sich mein Körper merkwürdig fremd an.
19.
Abwärts gebogen an schmächtigem Stiele hängen
die Früchte,
tragen am schlanken, länglichen Halse gewaltige Körper;
riesenhaft dehnt sich die Fülle sodann zum
gewichtigen Leibe,
alles ist Bauch und alles ist Wanst.
E ine kleine, glitzernde Flocke löste sich aus den dunklen Wolken, segelte langsam in Richtung Boden und setzte sich auf der Schulter des Mannes fest, der möglichst schnell in die Kammer neben dem Kräutergarten schlüpfte. Erst hier legte er den dicken Wollumhang ab, schüttelte die Flocken aus und begrüßte dann den jungen Mönch, der sich gerade an dem Feuer zu schaffen machte, das die Kälte von draußen nur mühsam in Schach hielt.
»Scheußlich wird es. Ich hätte auf dich hören und diese Insel vor dem Winter verlassen sollen. Als ich vor einem Jahr hier ankam, ist mir gar nicht aufgefallen, wie unwirtlich es hier ist, wenn die Sonne beschlossen hat, wieder in anderen Gegenden der Welt zu scheinen.« Thegan schüttelte sich. »Und ich habe das Gefühl, mit jedem Lebensjahr ertrage ich die Kälte schlechter …«
Walahfrid sah seinen Gast spöttisch an. »Willst du mir Angst vor dem Alter machen? Du zählst noch keine fünfundzwanzig Lenze, und doch jammerst du jetzt schon über den Winter, als wäre seine Ankunft eine Überraschung. Dabei ist das der Lauf der Welt, und es liegt an uns, rechtzeitig einen ordentlichen Vorrat an Brennholz zu schaffen!« Er stocherte ein wenig in der schwachen Glut. »Oder noch besser: Nur ein Idiot lässt sein Feuerholz nass werden. In diesem Fall bin leider ich der Idiot.«
»Du solltest dich für den Schreibdienst einteilen lassen«, meinte Thegan grinsend. »Wenn ich den Gesprächen der Mönche richtig gelauscht habe, dann ist der Schreibsaal der Mönche hier auf der Sintlasau mit einer Fußbodenheizung versehen. Verweichlichte Mönche seid ihr, gebt es ruhig zu!«
»Die Heizung ist in der Tat angenehm«, bekannte Walahfrid mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer. »Leider ist das Licht schlecht, und dir schmerzen die Augen, noch bevor es zum Mittagsgebet läutet. Da heißt es dann, eine Wahl zu treffen: schmerzende Augen und warme Füße oder stattdessen einen klaren Blick auf die blau gefrorenen Beine zu haben. An einem Tag wie diesem bin ich mir allerdings nicht so sicher, was das kleinere Übel ist. Aber wir sollten nicht von den Dingen sprechen, die wir ohnehin nicht ändern können. Erzähl, wie geht es Hemma?«
»Sie sitzt zu Hause und kann sich mit ihrem dicken Bauch kaum noch bewegen. Die Hebamme glaubt, dass das Kind noch vor dem neuen Jahr kommen wird. Und Hemma ist hin- und hergerissen zwischen der Angst, was da kommen wird, und dem Wunsch, sich endlich wieder bewegen zu können, wie ihr der Sinn steht. Ihr Vater läuft durch das Haus, betet in einem fort, verflucht zwischendurch mich und nimmt dann seine Tochter in den Arm und bittet um Entschuldigung. In meinen Augen ist er nicht mehr weit davon entfernt, den Verstand zu verlieren. Aber vielleicht hält seine geistige Gesundheit ja noch bis zum Augenblick der Niederkunft an.«
Walahfrid sah seinen
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