Holundermond
Nele stieß Flavio weg und warf sich auf ihr Bett.
Flavio machte auf dem Absatz kehrt. »Keine Angst, ich lasse dich ganz bestimmt in Ruhe.« Seine Stimme klang auf einmal ganz kalt und fremd. Nele biss sich auf die Lippen und sah aus den Augenwinkeln, dass Flavio sich an der Tür noch einmal zu ihr umdrehte. »Johanna. Sie heißt Johanna. Ich kenne sie nicht, hab sie nur zweimal im Garten gesehen und weiß ihren Namen von Viviane. Wenn du also mehr über sie wissen willst, musst du mit Viviane sprechen.« Dann knallte er die Tür hinter sich zu und Nele war allein.
15
Als Nele die Augen aufschlug, begann es draußen gerade erst zu dämmern. Sie hatte schlecht geschlafen und war mehrere Male in der Nacht aufgeschreckt, verfolgt von dunklen Bildern.
Sie hatte von dem Mädchen geträumt, von dem sie jetzt wusste, dass es Johanna hieß. Sie war hinter ihr her durch das Kloster gerannt, und immer, wenn sie geglaubt hatte, sie eingeholt zu haben, war sie wieder in einem der Gänge verschwunden. Am Schluss hatte Nele sich hoffnungslos verlaufen. Sie hatte nach Jan rufen wollen, als ein Mann vor ihr aufgetaucht war, dessen eisblaue Augen sie höhnisch anblitzten. Schweißgebadet war Nele aufgewacht.
Jetzt saß sie auf dem Bett, betrachtete die Wände ringsum, und mit dem Tageslicht kam die Erinnerung zurück an das, was wirklich geschehen war. Flavio. Ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen bei dem Gedankenan den nächtlichen Streit. Wenn du mehr wissen willst, sprich mit Viviane, hatte er gesagt. Nun, genau das würde sie tun. Überhaupt war Viviane ihr eine Antwort schuldig. Nele wurde das Gefühl nicht los, dass Viviane sehr viel mehr über Jans Geheimnis und seinen Verbleib wusste, als sie bisher zugegeben hatte.
Neles Magen knurrte. Sie hatte gestern Abend nach all der Aufregung nichts mehr essen können. Ihre letzte Mahlzeit waren die kleinen Leckereien auf dem Naschmarkt gewesen und das schien ihr im Moment Jahre zurückzuliegen. Nele schlüpfte aus dem Bett, streifte Jeans und Sweatshirt über und schaute aus dem Fenster. Im Garten war es ruhig und auch die Laube unter dem Holunder lag verlassen da. Nur eine Amsel badete in einer flachen Wasserschale und flatterte mit den Flügeln, sodass die Wassertropfen ringsumher spritzten. Als Nele sich wieder ihrem Zimmer zuwandte, fiel ihr Blick auf das Handy, das sie am Abend achtlos auf dem Fußboden liegen gelassen hatte.
Eigentlich hatte sie vor dem Einschlafen noch Lilli anrufen wollen, sich dann aber dagegen entschieden. Sie hatte nicht gewusst, was sie ihrer Mutter hätte sagen sollen. Dass Jan verschwunden war? Dass er sie alleingelassen hatte? Dann hätte Lilli sofort verlangt, dass sie nach Hause kam, und genau dorthin wollte Nele nicht.
Sie öffnete die Tür und ging durch den Flur zur Treppe. Ehrfürchtig berührte sie mit ihren Fingerspitzen die Grashalmean den Wänden, strich sanft über die gezeichneten Schmetterlinge, so als könnten sie plötzlich davonfliegen oder ihre Flügel zu Staub zerfallen, wenn sie nicht vorsichtig war.
Aus der Küche hörte sie leises Klappern und der Duft nach heißer Schokolade stieg ihr in die Nase.
»Guten Morgen, Nele!« Mit einem Lächeln drehte Viviane sich zu ihr um. »Du kommst genau richtig, der Kakao ist gerade fertig.« Viviane nahm einen Topf vom Herd und schüttete den dampfenden Inhalt in zwei Tassen, die bereits auf dem großen Tisch standen. In einem Korb lagen kleine süße Brötchen, und obwohl Nele sich eigentlich vorgenommen hatte, Vivianes Freundlichkeiten zu ignorieren, ließ sie sich dankbar auf die breite Bank sinken.
»Ich hoffe, du hast nach den ganzen Aufregungen gestern gut geschlafen.«
»Mmm.« Nele wollte nicht mit Viviane über ihre Träume sprechen. Sie nahm die Tasse in die Hand und nippte daran.
Viviane schnitt eines der süßen Brötchen auf und bestrich es mit Marmelade. Eine Hälfte reichte sie Nele. »Hier. Du bist doch bestimmt hungrig. Übrigens, du hast mir noch gar nicht erzählt, wie es dir auf dem Naschmarkt gefallen hat.«
»Es war schön dort.« Nele zögerte einen Moment. Um Zeit zu gewinnen, nahm sie noch einen Schluck Kakao.
»Aber?« Fragend sah Viviane sie über den Rand ihrer Tasse hinweg an.
»Es war schön, wenigstens so lange, bis wir Holzer gesehen haben.«
»Holzer war auf dem Naschmarkt?« Mit gerunzelter Stirn rührte Viviane in ihrer Tasse.
Nele nickte. Und dann erzählte sie von ihrer Begegnung mit dem Wiener Historiker, von ihrem Versuch, Jan telefonisch
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