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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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Notizbuch, »ein Gemälde mit einem Engel drauf.«
    »Ein Kelch, eine Schale und ein Engel«, wiederholte Nele. »Was ist mit dem Flammenschwert? Warum hat Jan das Schwert gezeichnet? Woher wusste er davon?«
    Flavio kniff die Augen zusammen. »Schau mal, das hier in der Mitte, das sieht ein bisschen aus wie ein Stern. Ein Stern mit vier Zacken.«
    »Ein Stern mit vier Zacken?« Nele starrte auf Jans Zeichnung. »Das ist kein Stern, das ist eine Windrose! Jan hat mir früher beigebracht, wie man eine zeichnet. Eine Windrose zeigt die vier Himmelsrichtungen an!« Sie nahm Flavio das Notizbuch aus den Händen und drehte es ein wenig. »Ich habe das nicht gleich erkannt, weil er sie nicht gerade auf das Blatt gezeichnet hat. Außerdem stimmen die Buchstaben nicht.«
    »Die Buchstaben stimmen nicht?« Nele sah Flavio an, dass er kein Wort verstand.
    »Normalerweise stehen an einer Windrose die Abkürzungen für die Himmelsrichtungen. N für Nord, O für Ost, S für Süd und W für West. Aber hier sind ein M, L, J und ein M. Was sich dahinter wohl verbirgt?«
    »Vielleicht die Himmelsrichtungen in einer anderen Sprache? Latein oder so?«
    Nele schüttelte den Kopf.
    Vier Gegenstände, vier Himmelsrichtungen. Was hatte das zu bedeuten?
    Eine Zeit lang starrten sie auf die Zeichnung. Dann blätterte Nele um.
    »Sieht aus wie der Grundriss der Kirche!«, murmelte Flavio.
    »Ja, du hast recht!« Nele nickte. Damit kannte sie sich aus. Jan hatte ihr so viele Grundrisse gezeigt, ihr erklärt,wie die alten Kirchen aufgebaut waren, nach welchem Muster sie entstanden, in welchen Teilen sie einander ähnelten und wo sie sich voneinander unterschieden. Und wieder spürte sie den feinen Stich im Herzen, als sie an die gemeinsamen Stunden zurückdachte.
    »Warum hat dein Vater den Grundriss der Kirche skizziert?«, fragte Flavio. »Schließlich ist er auf jeder Postkarte abgebildet.«
    »Ich weiß es nicht.« Nele spürte, wie die Wut auf Jan wieder in ihr aufstieg. »Vielleicht sollten wir das dämliche Notizbuch einfach diesem Holzer aushändigen und warten, bis mein Vater zurückkommt.«
    »Wenn er zurückkommt«, flüsterte Flavio.
    Nele sprang auf. »Wie kannst du so etwas sagen? Natürlich kommt er zurück! Er ist in Linz, das hast du doch gehört. In ein oder zwei Tagen ist er wieder da!« Sie riss das Notizbuch an sich und stopfte es in ihren Rucksack.
    Wortlos stand Flavio auf und ging zum Fenster. Augenblicklich tat Nele ihr Wutausbruch leid. Schließlich wollte Flavio ihr doch nur helfen. Sie trat auf ihn zu, als ihr Blick in den Garten fiel.
    Der lag inzwischen fast im Dunkeln.
    Auf dem Tisch in der Holunderlaube brannte wieder eine Kerze. Und plötzlich war da wieder das Mädchen. Wie am Abend zuvor trug es einen Rock fast bis zum Boden. Es ging zu dem Tisch unter der Laube, nahm dort ein Bündel auf und verschwand dann zwischen den Büschen.
    Es schien Nele, als ob das Mädchen kurz zu ihnen heraufgeschaut hätte, und unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück. Da sah sie, dass Flavio die Hand wie zum Gruß gehoben hatte.
    »Wer ist das?« Noch während sie die Worte aussprach, ärgerte sie sich, dass sie ihre Neugier nicht besser im Griff hatte.
    Flavio fuhr sich mit der Hand durch die dichten Locken. »Keine Ahnung.«
    Nele starrte ihn an. »Aber du hast ihr zugewunken. Du musst sie kennen!«
    »Ich habe ihr nicht zugewunken. « Hastig drehte sich Flavio vom Fenster weg.
    »Verdammt, Flavio, ich habe doch gesehen, wie sie zu dir hochgeschaut hat!«, rief Nele ärgerlich.
    Flavio verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Vielleicht solltest du jetzt besser zu deiner Freundin gehen«, zischte Nele.
    »Sie ist nicht meine Freundin«, fuhr Flavio sie an.
    »Schon klar!« Nele erschrak über den Zorn in ihrer Stimme. »Irgendwie werde ich aber das Gefühl nicht los, dass ihr alle was vor mir zu verbergen habt.« Tief im Innern wusste Nele, dass das nicht stimmte, aber der Schmerz in ihr war zu groß. Die Angst, plötzlich ganz allein zu sein, war übermächtig. »Bestimmt steckt ihr alle unter einer Decke. Du, Viviane, dieses Mädchen da und Holzer.«
    Flavio wurde blass. »Das glaubst du nicht wirklich, oder? Dass ich mit Holzer unter einer Decke stecke?«
    Nele konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte und was nicht.
    Flavio packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Nimm das mit Holzer sofort zurück!«
    »Ach, lass mich doch in Ruhe!«

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