Holundermond
gingen. Nele beschloss, nach Wien zu fahren. Sie würde in der Gruft nach dem verrückten Mönch fragen. Aber davon musste Viviane nichts wissen. Und Flavio erst recht nicht. Nele hielt es für das Beste, wenn sie sich ab sofort allein auf die Suche nach Jan machte.
»Mal sehen«, murmelte sie. »Jetzt bin ich müde. Und später will ich zum Prater. Lilli hat gesagt, da soll ich unbedingt hin.« Schnell verließ sie die Küche und hoffte, dass Viviane ihr diese Ausrede abgekauft hatte.
Erst in ihrem Zimmer fiel Nele auf, dass sie ganz vergessen hatte, Viviane nach Johanna zu fragen. Mit dem Gedanken an das Mädchen kam sofort dieses andere, völlig neue Gefühl zurück: Johanna kannte Flavio, Flavio kannte Johanna.Und zwar wesentlich länger, als sie Flavio kannte. Die beiden teilten ein Geheimnis, an dem Flavio sie nicht teilhaben lassen wollte. Nele kickte ein T-Shirt, das auf dem Boden lag, unters Bett. Die Eifersucht brannte in ihr. Dann würde sie eben Flavio ab sofort auch nicht mehr teilhaben lassen an ihren Geheimnissen. Sollte er doch bei dieser Johanna bleiben. Sie würde nach Wien fahren und herausfinden, welcher Sache ihr Vater auf die Spur gekommen war.
Wie ein Dieb kam Nele sich vor, als sie aus dem Haus schlich und zur Bushaltestelle um die Ecke lief. In ihrem Zimmer hatte sie nur ein paar Sachen in ihren Rucksack geworfen und war dann so schnell wie möglich aufgebrochen, ohne Viviane oder Flavio Bescheid zu sagen.
Endlich saß sie in dem Bus, der sie in die Stadt bringen würde. Plötzlich wünschte sie sich, Flavio wäre mitgekommen.
Nele lehnte den Kopf an die Scheibe und biss auf ihre Unterlippe. Was war nur mit ihr los? Jungs hatten sie noch nie interessiert, und dieser Flavio war nun wirklich nicht so etwas Besonderes, wie er offensichtlich gerne annahm. Aber warum zum Teufel musste er auch ein solches Tamtam um diese Johanna machen?
»
Buongiorno, signorina
, ist der Platz neben Ihnen noch frei?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sich Flavio neben ihr auf den Sitz fallen.
»Was machst du hier?«, fuhr Nele ihn an.
»Mein Vater hat einmal gesagt: Lass eine schöne Frau niemals allein.«
»Aha!« Nele wusste nicht, ob sie über Flavios Auftauchen froh oder verärgert sein sollte.
»Glaubst du, nur du hast ein Recht auf Abenteuer? Ich will in die Gruft und mir unseren geheimnisvollen Mönch ansehen.«
Flavio hatte also den gleichen Gedanken gehabt wie sie. Es beruhigte Nele, dass sie sich nun nicht allein auf die Suche nach dem verrückten Mann machen musste. Trotzdem war da immer noch die Sache mit Johanna.
Sie rutschte ein Stückchen von Flavio ab und schaute aus dem Fenster.
»Ach ja, wegen Johanna.« Flavio hielt Nele einen Zettel unter die Nase. »Ich soll dir von Viviane ausrichten, dass Johanna dich heute Abend kennenlernen möchte.«
Nele faltete den Zettel auseinander und starrte darauf.
Einladung zu einer Nacht unter dem Holunderbaum
stand in schönen geschwungenen Buchstaben darauf geschrieben. Rings um die Worte waren Zweige, Blüten und kleine dunkle Beeren gezeichnet, so fein, dass sie Nele sofort an die Bilder an den Wänden in der Pension erinnerten. Ob Viviane das Haus selbst so schön bemalt hatte?
Obwohl sie Flavio gerne gefragt hätte, was es mit dieser Einladung auf sich hatte, stopfte sie den Zettel in ihren Rucksack und starrte weiter aus dem Fenster.
Plötzlich schlug Flavio ihr auf die Schulter. »Los, wir sind gleich da.«
Als Nele nicht sofort reagierte, zuckte er mit den Schultern, stand auf und ging zur Bustür.
Nele seufzte und beschloss, die Sache mit Johanna erst mal auf sich beruhen zu lassen. Sie sprang auf und eilte hinter Flavio her.
Am frühen Morgen sah die Kirche noch viel beeindruckender aus, als Nele sie in Erinnerung hatte. Der Platz davor war leer, Touristen waren noch keine unterwegs, nur eine krumme alte Frau trat aus dem großen Portal, als Nele und Flavio schnell hineinschlüpften. Vermutlich hatte sie ihr Morgengebet verrichtet und der heiligen Jungfrau ein paar Kerzen angezündet.
Wieder fühlte sich Nele sehr beklommen in dem großen Raum. Ihr war, als ob sie in die Stille hineinliefe wie in eine Wolke, die sich hinter ihr schloss und sie ganz in sich aufnahm.
»Ob der Küster wieder da ist?« Sie brachte nur ein leises Wispern zustande und schaute sich dicht an Flavio gedrückt nach allen Seiten um.
»Ach was.« Flavio machte eine wegwerfende Handbewegung. »Der liegt bestimmt in den Federn. Komm, ich will zu
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