Holundermond
verbreitet denn so einen Blödsinn? Du kennst doch mein Zeugnis!«
»Das, lieber Flavio, hat mir
Dottore
Holzer höchstpersönlich erzählt, und das ist mit Sicherheit kein Blödsinn. Ich wundere mich nur darüber, dass ich es erst von ihm erfahren muss. Das Zeugnis, das du mir gezeigt hast, kann unmöglich deins gewesen sein.
Che cosa hai pensato?
«
»Was ich mir dabei gedacht habe?« Flavio stieß den Stuhl um und sprang auf. »Meine Versetzung ist nicht gefährdet, verdammt!«
»
Dottore
Holzer hat mir heute Morgen eine Zusammenfassung deiner schulischen Leistungen auf den Tisch gelegt. Du hast in einigen Fächern erhebliche Probleme und wirst nach den Sommerferien eine Nachprüfung machen müssen.« Flavio schnappte nach Luft, aber noch bevor er etwas erwidern konnte, fuhr Giovanni fort: »Ich habe hier einen Lernplan für die nächsten Wochen für dich. Eine genaue Aufstellung aller Fächer und der Anforderungen in den Nachprüfungen. Ab morgen sind deine Sommerferien vorbei.«
»Aber …« Nele sah, dass Flavio mit den Tränen kämpfte. Er ballte die Fäuste. »Dieser Scheißkerl! Dieser verfluchte Scheißkerl!«
»Flavio!« Nele zuckte zusammen. Giovannis flache Hand landete klatschend auf dem Tisch.
»Du kannst von Glück sagen, dass der
Dottore
sich so für dich einsetzt. Ab morgen wird gelernt, keine Widerrede. Es tut mir leid für dich«, er drehte sich zu Nele, »aber die Schule hat nun mal Vorrang.
La scuola é la cosa piú importante
!«
Flavio ließ seinen Vater einfach stehen und wandte sich zum Gehen. »Das wird Holzer noch büßen«, raunte er Nele im Vorbeigehen zu.
Nele war der Appetit auf Eis gründlich vergangen. Sie schnappte ihren Rucksack und rannte Flavio hinterher.
»Flavio, Nele!«, donnerte Giovannis Stimme von Neuem los.
Nur widerwillig drehte Flavio sich an der Tür noch einmal um. »Ja?«
»Haltet euch vom Kloster fern!«
»Ist schon klar, dein
Dottore
will uns da nicht mehr sehen.« Flavios Stimme troff vor Hohn.
»
Mein Dottore
hat mir mit der Schließung des Cafés gedroht, falls ihr weiter die Arbeit der Polizei behindert. Und was das bedeutet, brauche ich dir wohl nicht zu erklären.«
Ehe Flavio etwas erwidern konnte, packte Nele ihn am Ärmel und bugsierte ihn ins Freie.
20
Flavio schrieb und zeichnete, strich durch, nahm ein neues Blatt, zerriss das alte, blätterte im Notizbuch und fing wieder von vorne an. Der ganze Fußboden lag inzwischen voller Papier. Antworten auf ihre Fragen hatten sie noch nicht gefunden.
Nele saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und starrte auf das zerknitterte Foto des Altarbildes, bis ihr die Augen brannten, aber sie konnte einfach nicht erkennen, was die Markierungen von Jan ihr sagen wollten. Sie seufzte. So kamen sie einfach nicht weiter.
»Es hat keinen Sinn.« Nele rutschte vom Bett herunter. »Lass uns aufhören.«
»Ich denke gar nicht daran. Ich will wissen, was Holzer vorhat. Der hat Angst vor uns, Nele, kapierst du das nicht? Der will uns aus dem Weg haben!« Flavio griff wieder nach dem Notizbuch.
Nele stand auf und ging zum Fenster. Draußen fing es bereits an zu dämmern. Sie konnte Flavios Enttäuschung gut verstehen. Sie glaubte ihm, dass seine Versetzung nicht gefährdet war. Auch sie war davon überzeugt, dass es sich nur um einen bösen Schachzug Holzers handelte. Sie traute ihm alles zu. Aber Nele fühlte auch, dass es nicht in erster Linie der Hass auf Holzer war, der Flavio antrieb. Es war die grenzenlose Enttäuschung über seinen Vater, die Erkenntnis, dass Giovanni Holzer mehr Glauben schenkte als seinem eigenen Sohn. Giovanni war selbst ein Opfer dieses Mannes, aber das konnte oder wollte Flavio im Moment nicht sehen. Er war erfüllt von dem Wunsch, sich an Holzer zu rächen. Und dieser Wunsch vergiftete nicht nur die Beziehung zwischen Flavio und seinem Vater, er verströmte sein Gift auch in diesem Zimmer.
Nele schaute in den Garten. Brennende Kerzen säumten den Kiesweg. Viviane war gerade dabei, das Windlicht in der Laube anzuzünden, das Nele schon in den Nächten zuvor gesehen hatte. Im Holunder schaukelten kleine Lampions sanft im Wind.
»Ich glaube, wir sollten langsam hinuntergehen.« Sie drehte sich zu Flavio um. »Viviane hat schon alles vorbereitet.«
Flavio schüttelte den Kopf. »Geh allein. Mir ist heute nicht nach einer Nacht unter dem Holunder.«
»Allein?« Nele starrte Flavio entgeistert an. »Aber das kannst du nicht machen. Viviane hat uns beide eingeladen. Los! Wir kommen hier
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