Holundermond
Erzählungen mit Leben füllte. Bestimmt würde er ihr auch aus Linz eine Überraschung mitbringen. Und Nele wollte sich die Vorfreude keinesfalls von Flavio verderben lassen. Sie versuchte, seinen misstrauischen Blick zu ignorieren.
»Ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet«, riss der Mönch Nele aus ihren Gedanken. »Was wollt ihr hier? Was wisst ihr über die Elemente Gottes?«
»Wir? Wir wissen gar nichts darüber. Aber du rennst doch durch Wien und schreist alles in Grund und Boden. Tod und Verdammnis! Sie haben die Elemente Gottes gestohlen! Tod und Verdammnis!« Flavio machte das Geschrei des Mönches verblüffend echt nach.
Aus zusammengekniffenen Augen starrte Theo ihn an. »Zum letzten Mal. Was zum Teufel wollt ihr von mir?« Er beugte sich zu Flavio herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Ihr seid gekommen, um mich fortzuschaffen, richtig? Glaubt, der ist doch nicht ganz fit im Kopf. Wer hat euch geschickt? Sag es!« Er schüttelte Flavio. »In wessen Auftrag sollt ihr mich aushorchen?«
»Lass ihn in Ruhe!« Nele warf sich gegen Theo, der so überrascht war von ihrem Angriff, dass er Flavio losließ.
»Hier!« Wütend zeigte Flavio auf das Portrait von Holzer. »Was hast du mit dem zu schaffen? Steckt ihr unter einer Decke?«
Nele hielt die Luft an. Theo war blass geworden. Er ließ sich aufs Bett sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann schüttelte er den Kopf. »Die Türken, es waren die Türken, die die Elemente gestohlen haben.«
Nele schaute Flavio an, der zuckte aber nur mit den Schultern.
»Was war mit den Türken?« Flavio setzte sich auf das andere Bett und zog Nele neben sich. »Ganz ruhig«, flüsterteer ihr zu, »lass ihn erst mal reden. Wir finden schon heraus, was wir wissen wollen.«
Nele nickte und biss sich auf die Unterlippe. Ihr fiel es schwer, ruhig zu bleiben.
»Die Türken belagerten Wien.«
Flavio verdrehte die Augen. »Soll das jetzt eine Geschichtsstunde werden? Die Türken belagerten Wien zweimal. Das wissen wir. Geschichtsunterricht siebte Klasse. Und weil sie ja nicht ewig vor den Toren Wiens rumlungern konnten und auch was zum Essen brauchten, überfielen sie zwischendurch die Dörfer im Umland und das Kloster, die Kartause in Mauerbach.« Er nickte mit dem Kopf zu der Postkarte. »Komm endlich zur Sache.«
Nele schluckte. Flavios Nerven wollte sie haben. Sie schaute zu Theo, der in sich zusammengesunken war und mit seinen Gedanken ganz weit weg schien. Hatte er Flavio überhaupt gehört?
»Es war mitten in der Nacht«, sprach er unvermittelt weiter, »das Offizium hatte gerade erst begonnen. Alle Brüder waren in der Kapelle versammelt. Dann plötzlich – in die Stille hinein – die Glocke!« Theo sprang auf. »Alarm! Alarm! Das Kloster brennt!« Entsetzt klammerte sich Nele an Flavio. Theo stieg auf sein Bett und ruderte mit den Armen. »Feuer! Feuer! Überall ist Feuer! Die Brüder laufen aus der Kapelle in ein Flammenmeer! Die Kutten fangen sofort an zu brennen. Die Balken brechen, der Speicher stürzt ein!« Theo riss die Arme über den Kopf, als wollte er Schutz suchen vor herunterfallenden Deckenbalken.»Bimbimbimbim! Die Glocke läutet und läutet. Hört ihr das Brüllen? Und die Glocke? Bimbimbimbim!
Matutin!
Danach
Laudes! Pater noster, qui es in caelis!
« Seine Stimme überschlug sich.
»Sanctificetur nomen tuum! Adveniat regnum tuum!«
Nele hielt den Atem an. Fast schien es ihr, als könnte sie die Gebete der Männer hören.
»Die Bücher, sie müssen die Bücher retten! Die Bibliothek! Alles steht in hellen Flammen. Es knistert, es tobt, es wütet!« Ein diabolisches Grinsen verzog Theos Gesicht zu einer Grimasse.
Nele glaubte, das Feuer jener Nacht in seinen Augen leuchten zu sehen.
»Für die Bücher ist es zu spät! Die Schätze, das Kloster beherbergt unzählige Schätze! Silber, Gold, Edelsteine! Darauf haben es die Türken abgesehen. Sie wollen die Schätze!« Theo sprang vom Bett und riss das Portrait Holzers von der Wand. Wild fuchtelte er damit in der Luft herum. »Sie reißen die Gräber auf, stoßen die Grabdeckel zur Seite, wühlen in den Gebeinen nach Gold, suchen zwischen den Toten!« Nele lief ein kalter Schauer über den Rücken, als Theo laut auflachte. »Sie wissen, dass die Brüder die Schätze in den Gräbern versteckt haben. Sie wüten auf den Ruhestätten, zwingen die Männer, die sie noch fassen können, ihnen die Gräber zu öffnen!« Er packte sich mit der Hand an die Kehle, als wollte er sich erwürgen.
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