Holundermond
»Dann stoßen sie die Mönche in die Gräber, damit sie die Knochen herauswerfen. Sie wühlen in denKnochen wie hungrige Wölfe! Und dazwischen rennen die Brüder. Lebende Fackeln! Fackeln Gottes! Sie rennen in den Wald, stürzen den Berg hinauf, stolpern und schreien! Sie schreien! Erbarmen! Herr, erbarme dich!
Kyrie eleison! Deus miserere nobis!
«
Nele wollte aufspringen, presste sich die Hände auf die Ohren, doch Flavio legte ihr beruhigend einen Arm um die Schultern und hielt sie fest.
»Warte«, flüsterte er, »warte. Ich will wissen, wie es weitergeht.«
»Da, ein Mönch. Mitten unter den Feinden ein Mönch. Jung. Er kämpft sich durch die Meute, zu den offenen Gräbern, stößt alle beiseite, die sich ihm in den Weg stellen, wühlt in den Knochen, genau wie sie.« Theo breitete die Arme aus und strahlte über das ganze Gesicht. »Dann findet er ihn, den Ring! Den goldenen Ring, der die Elemente vereint. Der Ring, der den Kreislauf der Zeit zu schließen vermag. Ein Bruder findet ihn! Rettet ihn! Ehre sei Gott in der Höhe!« Theo fiel auf die Knie, sein Gesicht war tränenüberströmt. »Er nimmt den Ring, streift ihn von der Knochenhand – und steckt ihn sich an. Links und rechts von ihm fallen die Brüder, ihr Blut tränkt die Gebeine der Heiligen. Aber er trägt den Ring!« Theo ließ seinen Kopf neben Nele aufs Bett sinken. »Er trägt den Ring.« Entsetzt wich Nele zurück.
»Und dann?« Flavio rüttelte den zusammengesunkenen Mann an der Schulter. »Was passierte dann? Und was ist das für ein Ring?«
Theo hob das tränennasse Gesicht und starrte Flavio an. »Wer bist du? Was wollt ihr hier? Was wisst ihr von dem Ring?«
Nele zitterte am ganzen Körper. »Flavio, bitte, ich will hier raus. Das hat doch keinen Sinn.«
Flavio deutete mit einem Kopfnicken zu Theo.
Der Mönch hielt die Hand zur Faust geballt hoch in die Luft. Weiß traten seine Knöchel hervor, seine Finger mahlten, dann rieselte das Portrait Holzers in kleinen Stückchen zu Boden.
19
Nele hatte sich so viel von ihrem Besuch in der Gruft versprochen, aber jetzt herrschte in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander. Wer war Theo und was hatte er mit diesem Holzer zu tun? Nie würde sie den Anblick von Theos Augen vergessen, als dieser das Portrait des Wiener Historikers zwischen den Fingern zerrieben hatte.
Nachdem sie die Gruft verlassen hatten, wollte Nele nur noch in die Pension. Aber Flavio hatte sie überredet, ihn in das Eiscafé seines Vaters zu begleiten. Als Flavio kurz zu seinem Vater in die Küche verschwand, nahm sich Nele abermals Jans Notizen vor. Wohl zum hundertsten Mal blätterte sie durch die Zeichnungen, auf der Suche nach einem Hinweis, der ihnen weiterhelfen konnte. Das Dumme war, dass sie nicht wusste, wonach sie suchte.
»Na, hast du was gefunden?«, fragte Flavio, der mit einem Eisbecher und einem Teller frischer Krapfen zurückkam.
Nele schüttelte den Kopf. Theos Geschichte mochte spannend gewesen sein, aber was sie mit den Elementen Gottes oder den verschwundenen Gegenständen in den Kirchen zu tun haben sollte, blieb für sie weiter ein großes Rätsel.
»Eins steht jedenfalls fest«, Flavio biss in einen Krapfen und sprach mit vollem Mund, »Theo kennt Holzer. Und er hasst ihn. Allein das macht diesen Mönch doch unglaublich sympathisch.« Er grinste und schnappte sich den nächsten Krapfen.
»Aber woher kennt er ihn? Und warum hasst er ihn so? Was könnte Holzer ihm getan haben?« Lustlos stocherte Nele in dem Berg aus Sahne, Früchten und italienischer Eiscreme herum.
Flavio verzog den Mund. »Da würden mir auf Anhieb tausend Gründe einfallen. Dieser Holzer ist einfach ein arroganter Mistkerl.«
»So etwas will ich über einen deiner Lehrer nie wieder hören!«
Flavio zuckte zusammen, als er die Stimme seines Vaters hörte. Blitzschnell ließ Nele Jans Notizbuch unter den Tisch auf ihren Schoß gleiten, um es von da aus in ihrem Rucksack verschwinden zu lassen.
»Holzer war heute Morgen hier.« Giovannis Miene verhieß nichts Gutes. »Er wollte mit mir über deine schulischen Leistungen reden.«
»He, es sind Sommerferien!« Ungerührt steckte Flavio den Finger in Neles Eisbecher und leckte ihn ab.
»Für dich dürften die Sommerferien vorbei sein, mein Lieber.« Giovanni reichte Flavio wortlos eine Serviette. »Deine Versetzung ist gefährdet!«
Nele hielt die Luft an. Das klang nicht nach einem Gespräch, bei dem sie dabei sein wollte.
Flavio starrte seinen Vater an. »Wer
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