Holundermond
im Moment sowieso nichtweiter.« Sie nahm das Notizbuch, schob die zahlreichen Blätter und Skizzen zusammen und versteckte alles unter ihrem Bett.
Als Nele mit Flavio in den Garten kam, hatte sie das Gefühl, in eine andere Welt einzutreten. Eine tiefe Ruhe durchströmte sie und verscheuchte die Gedanken an den verrückten Mönch, an Holzer und den Streit zwischen Flavio und Giovanni. Der Mond stand rund am Himmel und tauchte die Nacht in ein silbriges Licht. Im Schein der flackernden Kerzen tanzten wilde Schatten über den Weg, und die kleinen Lämpchen im Holunder schaukelten so sanft im Wind, dass man fast glauben konnte, winzige Feen oder Glühwürmchen schwebten dort durch die Blüten und Blätter.
»Da seid ihr ja, ihr zwei Abenteurer. Johanna wartet schon auf euch.« Viviane kam ihnen lächelnd entgegen und deutete zur Laube.
Dort saß das Mädchen, das Nele vom Fenster aus gesehen hatte. Wie in der Nacht zuvor trug es einen dicken geflochtenen Zopf und ein Kleid, dessen Rock ihr im Sitzen bis auf die Füße fiel.
Plötzlich fühlte Nele sich schäbig in ihrer verwaschenen Jeans und dem schlabberigen Sweatshirt. Kein Wunder, dass Flavio diese Johanna so fasziniert anstarrte.
Auf dem Tisch brannte das Windlicht, und die Flamme spiegelte sich in den Gläsern, die Viviane mit prickelndem Holunderblütensaft gefüllt hatte.
Nele setzte sich verlegen auf die Bank neben Flavio und nahm von Vivianne ein Glas Saft entgegen.
»Du hast Johanna ja schon von deinem Fenster aus beobachtet, und ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass du wissen möchtest, wer sie ist.«
Nele fühlte, wie sie rot wurde. Viviane hatte recht. Sie war neugierig, aber so direkt darauf angesprochen zu werden, war ihr unangenehm.
Vor lauter Verlegenheit wusste sie nicht, wohin sie schauen sollte. Zum Glück schien Johanna ihre Befangenheit nicht zu bemerken.
»Dass Johanna hier ist, hat etwas mit dem Altarbild zu tun«, begann Viviane. »Ihr wisst schon, das große Gemälde in der Kirche der Kartause.«
Nele schaute zu Flavio. Wieder das Altarbild. Sie sah ihm an, dass er das Gleiche dachte wie sie.
Jan hatte das Gemälde fotografiert und offensichtlich genau studiert.
Was hatte es nur damit auf sich?
Viviane griff nach einer Flasche, die neben den Gläsern auf dem Tisch stand, und schenkte sich Wein ein, der dunkelrot, fast schwarz war.
»Holunderwein«, sagte sie lächelnd, als sie Neles fragenden Blick bemerkte. »Hinter dem Altarbild in der Kartausenkirche verbirgt sich ein großes Geheimnis. Ich will euch erzählen, was ich darüber weiß. Habt ihr schon einmal etwas von dem Maler Celesti gehört?«
Flavio schüttelte den Kopf, aber Nele nickte.
»Andrea Celesti war ein italienischer Maler, der im 17. Jahrhundert gelebt und viele Bilder und Fresken für Kirchen gemalt hat.«
Viviane nickte. »Wie ihr wisst, wurde die Kartausenkirche von den Türken bei deren Überfall auf das Kloster niedergebrannt und fast völlig zerstört. Nach deren Wiederaufbau im Jahr 1690 wurde Celesti beauftragt, für die Kirche ein großes Altarbild zu schaffen. Die größten Heiligen und ein paar andere wichtige Personen aus der Geschichte der katholischen Kirche sollten darauf verewigt werden. Um dem Maler die Arbeit zu erleichtern, sollten die Mönche des Klosters, aber auch Menschen aus der Umgebung Modell stehen. So war es seinerzeit üblich.«
Gebannt lauschte Nele den Worten Vivianes. Das Altarbild. Das Bild, dessen Foto sie den ganzen Nachmittag angestarrt hatte.
Viviane trank einen Schluck Wein und schaute in die Flamme der Kerze, als könnte sie dort sehen, was vor mehr als dreihundert Jahren geschehen war.
»Der Maler nahm den Auftrag an. Die Arbeit in dem Kloster war angenehm, das Essen gut und auch die Bezahlung konnte sich sehen lassen. Tag für Tag arbeitete er an dem riesigen Bild. Eines Tages, es fing gerade an zu dämmern und Celesti war dabei, seine Pinsel auszuwaschen, erschien ein Mönch in der Kirche, den Celesti bisher noch nicht gesehen hatte.«
»Ein fremder Mönch?« Flavio schaute Viviane mit großen Augen an.
Viviane zuckte die Achseln. »So besagt es die Legende.«
Flavio murrte leise, offensichtlich war er mit dieser Antwort nicht zufrieden. Aber da fuhr Viviane schon fort: »Celesti glaubte zunächst, der Mönch wolle sich seine Arbeit anschauen, und stolz erklärte er ihm das Altarbild.«
»Schade, dass er es uns nicht mehr erklären kann«, entfuhr es Nele.
Viviane lachte. »Ja, das würde vieles einfacher
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