Holundermond
Medikamente.«
Johanna nickte stumm und griff nach dem Bündel, das Viviane ihr reichte. »Ich bin mir sicher, in wenigen Tagen hat Samuel genug Kraft, um aufstehen zu können.« Viviane nahm das Mädchen noch einmal fest in die Arme. »Könnt ihr Johanna zum Kloster zurückbringen?« Fragend schaute sie Nele und Flavio an.
Flavio nickte sofort. Nele musste an Giovanni denken und das Klosterverbot. Aber sie sagte nichts. Ihre Neugier war einfach zu groß.
Schweigend brachen sie zum Kloster auf. Keiner von ihnen sagte ein Wort.
Nele fühlte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Was würde passieren, wenn Johanna das Bild berührte? Würde sie tatsächlich vor ihren Augen verschwinden? Konnte sie selbst auch durch das Bild hindurchgehen? Ein schrecklicher Gedanke drängte sich in ihren Kopf. War Jan am Ende durch das Bild in eine andere Zeit verschwundenund fand nicht mehr zurück? Sie blieb so abrupt stehen, dass Johanna und Flavio sie erstaunt ansahen.
»Was ist los?« Flavios Stimme klang ungeduldig.
»Mein Vater«, stammelte sie. Der Gedanke hatte sie so erschreckt, dass sie Mühe hatte, ihn auszusprechen. »Mein Vater, also Jan, glaubst du«, Nele holte tief Luft, »könnte es sein, dass er in der Vergangenheit feststeckt?«
»Jan? In der Vergangenheit?« Flavio überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Wenn das so wäre, warum sollte er dich dann anlügen? Dann würde er dich doch eher um Hilfe bitten, oder? Außerdem«, nachdenklich schaute er Johanna an, »glaube ich nicht, dass man in Johannas Zeit Handyempfang hat.«
Es stimmte, Jan hatte sie heute Morgen angerufen. Telefonieren konnte man ganz sicher nicht aus der Vergangenheit. Und morgen würde er ja wieder aus Linz zurück sein.
Warum hörte sie nicht einfach auf, sich Sorgen zu machen? Nele verdrängte den Gedanken an Jan. Jetzt war erst mal eine ganz andere Frage wichtig: Wie sollten sie ohne Schlüssel in das Kloster gelangen?
Leise wandte sich Nele mit dieser Frage an Flavio, aber der legte nur den Finger auf die Lippen und bedeutete ihr, ihnen zu folgen.
Als sie vor dem Haupttor des Klosters standen, vergewisserte er sich nach allen Seiten, dass niemand sie beobachtete. Nele stand hinter ihm und fing vor Aufregung an zu zittern. Dann schlichen sie eng an die Mauer gedrückthinter Johanna her zur Ostseite des Klosters, bis ihnen der Weg mit einem Mal durch ein hohes Gestrüpp versperrt wurde. Noch bevor Nele begriff, was Flavio und Johanna vorhatten, verschwanden beide in dem Dickicht. Mit klopfendem Herzen drückte Nele die Zweige auseinander und stand vor einer Öffnung in der Mauer, die gerade groß genug für sie war. Schnell schlüpfte sie hindurch und fand sich innerhalb der Klostermauern wieder, mitten auf einem Friedhof.
Die rostigen schmiedeeisernen Kreuze und verwitterten Grabsteine schimmerten fahl im Mondlicht. Um nicht laut aufzuschreien, presste sich Nele die Hand auf den Mund. Die Erzählungen von Theo schossen ihr durch den Kopf. Bilder von aufgerissenen Gräbern, von Türken, die in den Knochen nach Schätzen wühlten, von einem Mönch, der einen Ring von dem Finger eines Skeletts streifte. Fast glaubte sie, die Schreie der brennenden Mönche zu hören. Sie taumelte rückwärts, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte.
»Keine Angst«, flüsterte Flavio ihr zu und schob sie vor sich her in Richtung der Klostermauern, wo Johanna bereits auf sie wartete.
Vor einer kleinen Tür, die im Dunkeln kaum zu sehen war, blieben sie stehen.
Flavio schob ein wenig Efeu zur Seite, nahm einen rostigen Schlüssel aus einer kleinen Nische und schloss auf. »Prego signore, dopo di voi!«
Verständnislos schaute Nele Flavio an.
Grinsend trat er einen Schritt zurück und deutete eine kleine Verbeugung an. »Nach Ihnen, Madame!«
Nele zog eine Grimasse und schlich hinter Johanna ins Innere des Klosters.
Zielsicher führte Flavio sie durch die Gänge zum Seiteneingang der Kirche. Als er die Tür öffnete, empfing sie eine gespenstische Stille. Das einfallende Mondlicht wurde von den hohen weißen Wänden reflektiert und verlieh dem Saal ein milchig schimmerndes Aussehen.
Nele blieb so dicht wie möglich hinter Flavio und Johanna, während sie auf das Gemälde zugingen, das bedrohlich zwischen den schwarzen Säulen aufragte.
Johanna hatte die Stufen zum Altar bereits erklommen. Nur noch wenige Schritte trennten sie jetzt von dem Bild, da drehte sie sich zu ihnen um. »Danke für alles. Wir sehen uns dann morgen Abend.« Sie
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