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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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einer alten Frau angerempelt zu werden, die wütend ein kleines greinendes Kind hinter sich herzerrte, das nur mit einem dünnen Kittel bekleidet war. Johanna konnte sehen, dass der kleine Körper über und über mit roten entzündeten Pusteln übersät war. Sie hastete weiter, immer darauf bedacht, möglichst keinen der Menschen zu berühren. Das hatte Viviane ihr eingeschärft und auch ohne deren Warnung war ihr klar, dass die Gefahr einer tödlichen Krankheit in jeder Ecke lauerte.
    Endlich erreichte sie das Brunnenhaus und wunderte sich einmal mehr über dessen Namen, denn eigentlich war es gar kein Haus, das den Brunnen beherbergte, sondern nur ein weiterer etwas größerer Raum, von außen durch nichts von den Mönchszellen zu unterscheiden. In seinerMitte befand sich ein Brunnen, der tief in das Erdreich hineingegraben worden war. Nur dem Brunnenwächter war es erlaubt, Wasser für die Bewohner des Seuchenhauses zu schöpfen und auszuteilen. Johanna mochte den Mann nicht, dem dieses Amt zugefallen war. Es handelte sich um einen kräftigen, aber buckligen Mann, mit einem von Pockennarben entstellten Gesicht. Sein linkes Auge war stets geschlossen. Wahrscheinlich hatte er es unter den Pocken verloren und das Lid war so vernarbt, dass er es nicht mehr öffnen konnte. Seine Hände waren schwielig und zeugten davon, dass sie einst schwerere Arbeit gewohnt waren als das Schöpfen und Austeilen von Wasser. Da das Brunnenhaus über kein Fenster verfügte, verrichtete der Wächter sein Amt stets im Dämmerlicht zweier flackernder Kerzen.
    Hastig murmelte Johanna einen Gruß und hielt dem Mann, der sie auch heute wieder argwöhnisch musterte, ihren Tonbecher hin.
    Sie vermied es, ihn direkt anzusehen.
    »Ich habe hier nichts zu verschenken. Und du siehst nicht aus, als ob du am Verdursten wärst.«
    »Aber das Wasser ist nicht für mich«, stammelte Johanna, »es ist für meinen kleinen Bruder, der krank in der Kirche liegt.«
    »Wenn er krank ist, braucht er kein Wasser mehr, dann ist ihm sowieso nicht mehr zu helfen. Und jetzt verschwinde!« Der Brunnenwächter nahm seine große hölzerne Schöpfkelle in die Hand und fuchtelte damit vorJohannas Gesicht herum. »Na los, verzieh dich, oder soll ich dir Beine machen?« Johanna kämpfte mit den aufsteigenden Tränen. Das Wasser war lebenswichtig für Samuel, auch das hatte ihr Viviane eingeschärft, und so leicht würde sie sich nicht abwimmeln lassen, auch wenn sie panische Angst hatte. Entschlossen hielt sie ihm wieder den Becher hin.
    »Du musst mir Wasser geben, das weiß ich, es ist deine Aufgabe, die Menschen hier mit Wasser zu versorgen und darauf zu achten, dass sie den Brunnen nicht verunreinigen.«
    Der Mann machte einen Schritt auf Johanna zu. »So? Ich
muss
dir also Wasser geben? Und was gibst du mir dafür?« Entsetzt wich Johanna zurück und der Brunnenwächter brach in schallendes Lachen aus. »Ich will nicht das, was du denkst!« fauchte er sie an. »Du bist ja noch ein Kind, ich vergreife mich nicht an Kindern.« Er deutete auf das Bündel in ihrem Arm. »Aber das, was du da mit dir herumträgst, das würde mich schon interessieren.«
    Johanna presste den Beutel fest an ihren Körper und schüttelte stumm den Kopf. Die Vorräte durfte er ihr nicht wegnehmen.
    »Na los, gib schon her, ich will sehen, was du da hast!« Mit einem energischen Griff entwand er ihr das Stück Stoff und faltete es auf dem Brunnenrand auseinander. »Ja, da schau her!« Er pfiff durch die Zähne angesichts der Lebensmittel, die er in ihrem Beutel fand. »Offensichtlich bist du nicht ganz so unschuldig, wie du aussiehst.Oder wie bist du an diese Leckerbissen gekommen?« Johanna sah, wie sich der Brunnenwächter genüsslich die Lippen leckte bei dem Gedanken an ein bevorstehendes Festmahl. Sie nahm all ihren Mut zusammen und machte einen Schritt auf ihn zu.
    »Gib das sofort wieder her! Das gehört nicht dir. Das Essen brauche ich für meinen kranken Bruder, damit er wieder zu Kräften kommt.« Sie griff nach dem Tuch.
    »Papperlapapp!« Unwirsch schlug der Wächter Johannas Hand weg. »Willst du Wasser? Dann gib mir den Beutel. Eine Hand wäscht die andere, so läuft das nun mal.«
    Tränen der Verzweiflung schossen Johanna in die Augen, als der Brunnenwächter die Vorräte wieder in das Tuch wickelte und sich unter sein derbes braunes Hemd stopfte. Verzweifelt schluckte sie ihre Tränen herunter und versuchte, ihre Stimme im Griff zu behalten. »Das darfst du nicht tun. Gib mir

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