Holundermond
zu sehen. An der Telefonanlage blinkte ein kleines grünes Lämpchen, vermutlich war der Anrufbeantworter aktiviert.
»Da drüben.« Flavio wies mit der Taschenlampe auf eine mit dicken Lederbeschlägen versehene Tür. Langsam drückte er die Klinke herunter. Nele schloss die Augen und betete, dass auch diese Tür nicht verschlossen war. Sie hatten Glück.
Flavio eilte sofort zum Fenster und schaute hinunter auf die Straße. Draußen schien alles ruhig zu sein, trotzdem nickte Nele zustimmend, als er vorschlug, sie solle die Haustür im Auge behalten. Mit klopfendem Herzen bezog sie ihren Posten seitlich neben dem Fenster.
Flavio begann unterdessen, das Büro Holzers Stück für Stück zu durchsuchen. An einem Bücherregal, das eine Breitseite des Raums einnahm, blieb er stehen.
»Die sind sicher ein Vermögen wert«, flüsterte er und strich ehrfürchtig über die alten ledernen Einbände. Plötzlich pfiff er leise durch die Zähne. »Nele, komm mal her!« Er hatte den Lichtstrahl der Taschenlampe auf die Wand gerichtet. »Sieh dir das an«, flüsterte er, als Nele neben ihm stand. Langsam ließ Flavio den Lichtstrahl über ein paar Fotos gleiten.
Nele erkannte die Kartause, den Kaisergarten, die Kirche von außen. Daneben hing ein Foto … Nele hielt die Luft an. Die Aufnahme war eine Vergrößerung des Altarbildes. Und auch hier waren die Stellen von Hand markiert worden, die Jan auf seiner Fotografie eingekreist hatte.
»Flavio, da!« Aufgeregt deutete Nele auf eine Aufnahme des Grabsteins, der ihr erst heute Morgen die wahre Herkunft des Historikers und Geschichtslehrers offenbart hatte.
Daneben hing noch ein weiteres Foto. Es zeigte die große Steintafel, die im Eingang der Kartause hing und in der die Namen jener Männer eingemeißelt worden waren, die dem Kloster als Prior vorgestanden hatten. Ein Name war von Holzer dick unterstrichen worden.
Nele stieß mit der Nase fast an das Foto, um den Namen lesen zu können. »Theophil der Zweite.« Sie erstarrte.
»Theophil …«, murmelte Flavio, »Theo … unser Theo?«
Nele nickte beklommen. »Wenn die Daten da stimmen, dann ist – ich meine, dann war Theo in der Kartause Prior, und zwar von November 1695 bis August 1715.«
Flavio dachte einen Moment nach. »Das würde zumindest erklären, warum Theo über die Türkenbelagerung so gut Bescheid weiß.«
Nele schauderte. Wie viele Menschen waren noch durch das Gemälde in ihre Zeit gekommen? Und was wollten sie alle hier? Konnte es wirklich sein, dass Theo ein Mönch aus dem 17. Jahrhundert war? Reiß dich zusammen, befahl sie sich, als sie spürte, wie sich eine innere Unruhe in ihr ausbreitete. Das Wichtigste war im Moment, einen Beweis dafür zu finden, dass Holzer hinter den Kirchendiebstählen steckte.
Sie ließ ihren Blick weiter über die Fotos und Zeitungsausschnitte an der Wand gleiten. »Flavio!« Nele tippte ihm auf den Arm. »Leuchte mal hierhin!« Flavio richtete die Taschenlampe auf das nächste Bild. Darauf war eine Steinplatte mit eingemeißeltem Kreuz zu sehen. Es war die Steinplatte, die Flavio bei ihrem ersten Besuch in der Klosterkirche auf dem Fußboden entdeckt hatte.
»Was hat das alles zu bedeuten?« Nele kam es so vor, als würden sie immer mehr Puzzleteile finden, die alle nicht zusammenpassen wollten. Und dabei waren sie der Antwort auf die wichtigste Frage bisher keinen Schritt näher gekommen: Wo war Jan?
»Wir sollten besser die Straße im Auge behalten«, flüsterte Flavio.
Erschrocken eilte Nele zurück ans Fenster. Von Holzer überrascht zu werden, war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
»Wenn ich nur wüsste, was dieser Mistkerl im Schilde führt.« Flavio hatte sich neben sie gestellt. »Als Holzer heute Morgen dachte, er hätte mich verloren, ist er zur Korrekturzelle gegangen. Ich hätte nachsehen müssen, was er da zu suchen hatte.«
Nele wandte den Blick von der Straße ab. »Welche Zelle hat Holzer betreten?«
»Die Korrekturzelle. Eine Zelle, die sozusagen für die Korrektur missratener Mönche gedacht war. Man könnte sie auch Arrestzelle nennen. Ich habe vom Brunnenhaus aus gehört, dass Holzer dort hineingegangen ist.«
In Neles Kopf arbeitete es fieberhaft. Wo hatte sie diese Begriffe schon einmal gehört? Korrekturzelle, Brunnenhaus. Sie war sich sicher, dass nichts davon in Jans Notizbuch stand.
Jan! Nele schrie leise auf. Jan hatte diese Begriffe erwähnt. Oder zumindest ganz ähnliche. Aufgeregt erzählte sie Flavio, was sie noch von
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