Holundermond
starker Junge werden.« Behutsam schob Johanna ihrem Bruder ein kleines Stückchen Brot zwischen die Lippen. Sie war Viviane dankbar für ihre Hilfe, aber trotz der leckeren Köstlichkeiten, die die Frau aus der anderen Zeit für sie und Samuel eingepackt hatte, war es schwer, ihren Bruder zum Essen zu überreden. Sie musste sehr vorsichtig dabei vorgehen, schließlich durfte keiner der anderen Menschen um sie herum merken, dass Samuel etwas anderes zu sich nahm, als die tägliche dünne Brühe, die ihnen im Seuchenhaus gereicht wurde.
»Einen Bissen noch, nur einen ganz kleinen«, bettelte Johanna leise. Sie schickte Stoßgebete zum Himmel, dass Samuel heute ausnahmsweise auf sie hören würde, abersein kleiner Mund blieb wieder einmal fest verschlossen. Dass Samuel so hartnäckig jede Nahrung verweigerte, zeigte Johanna, wie krank er immer noch war, denn jedes halbwegs gesunde Kind hätte sich nach der kargen Kost, die den Armen und Kranken hier zugeteilt wurde, hungrig und gierig auf ihren Beutel voller gesunder Leckerbissen gestürzt.
Johanna seufzte und griff zu dem Tonbecher, den ihr Viviane mitgegeben hatte, damit Samuel nicht länger gezwungen war, aus dem gleichen Gefäß zu trinken wie all die anderen Kranken. Die Gefahr, dass er sich wieder von Neuem ansteckte, war einfach zu groß.
»Ich hole dir etwas frisches Wasser, ich bin gleich zurück.« Müde strich sie Samuel über die verschwitzten Locken und stand auf. Der Brunnen befand sich in einem Seitenflügel der Kartause. Ihr Bündel mit den Nahrungsmitteln nahm Johanna mit, zu groß war die Angst, ein hungriger Bettnachbar könnte sich daran vergreifen. Johanna durchquerte die Kirche und versuchte, nicht auf das Stöhnen und Jammern rechts und links des Ganges zu achten. Obwohl sie jetzt schon eine geraume Zeit mit ihrem Bruder hier lebte, fiel es ihr immer noch schwer, die Augen und Ohren vor all dem Kummer und Leid zu verschließen. Gerade als sie die kleine Tür, die zu den Gängen des Klosters führte, öffnen wollte, kamen ihr zwei Männer entgegen, die ein Brett unter den Armen trugen und sie unwirsch zur Seite drängten. Johanna sah den Ekel in ihrem Blick, als sie die Kirche betraten und sich suchendumschauten. Sie spürte, wie die beiden vor ihr zurückwichen, aus Angst, sie könnte einen von ihnen berühren und ihn ebenfalls anstecken.
Johanna wusste, dass die Männer wieder auf der Suche waren nach Menschen, die die letzte Nacht nicht überlebt hatten. Die armen Seelen würden dann schnell in einem der Massengräber verscharrt werden und schon morgen waren ihre Name Vergangenheit. Keiner würde ihnen eine Träne nachweinen.
Sie duckte sich schnell unter den Armen des einen Mannes hindurch, um nach draußen zu schlüpfen. Sie wollte sich beeilen mit dem Wasser, um so schnell wie möglich wieder bei Samuel zu sein. Obwohl der Anblick für sie nicht neu war, packte sie doch das Entsetzen, als sie sah, wie viele Menschen hier in dem alten Kloster inzwischen untergebracht worden waren. Es mussten fast tausend Menschen sein, die auf engstem Raum zusammengepfercht lagen. Sie wusste, dass auch die ehemaligen Mönchszellen vollgestopft waren mit Kranken, mit Gebrechlichen, mit Alten, kurz mit allem, was in der prunkvollen Kaiserstadt Wien niemandem mehr von Nutzen sein konnte. Teilweise waren die Wände der Zellen herausgebrochen worden, um die Räume zu vergrößern und so mehr Platz zu schaffen. Trotzdem lagen auch auf den Fluren und Gängen der Kartause Menschen, und Johanna musste aufpassen, nicht über einen von ihnen zu stolpern. Eine Frau trat ihr in den Weg und hielt ihr bettelnd die Hand entgegen. Im anderen Arm lag ihr Kind, das gierig an der nackten schlaffenBrust der Frau saugte. Vermutlich bekam es nicht mehr genug Milch, denn von den kargen Mahlzeiten konnte die junge Mutter kaum satt werden. Es kostete Johanna viel Überwindung, die Frau zur Seite zu schieben, aber sie musste an Samuel denken. Fast wäre sie über die Beine eines Mannes gestolpert, der auf dem Boden saß und sie dümmlich anglotzte. Als er ihren Blick bemerkte, öffnete er seinen Mund zu einem breiten zahnlosen Grinsen, und lange Speichelfäden liefen dabei über sein Kinn und tropften auf seine Brust. Entsetzt sah Johanna, dass man seinen Hals mit einem Eisenring versehen und an der Wand angekettet hatte. Mit einem rhythmischen Schaukeln zerrte der Mann an seinen Ketten, ohne dabei den Blick von ihr zu lassen. Schnell wandte sie sich ab, um im nächsten Moment von
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