Holundermond
ihrem letzten Telefongespräch wusste. »Er sagte, er müsse jetzt Schluss machen, denn er wolle noch schnell die Korrekturen am Brunnen vornehmen. Ich dachte die ganze Zeit, er redet von irgendwelchen Gegenständen in der Linzer Kirche.«
»Jan hat dir eine verschlüsselte Botschaft zukommen lassen!« Flavio schluckte. Jan war im Kloster? Er konnte es nicht glauben, dass er Neles Vater so nah gewesen war.
»Wir müssen zum Kloster. Schnell!« Übelkeit stieg in Nele auf. Jan hatte ihr einen versteckten Hinweis gegeben und sie hatte ihn nicht verstanden.
Flavio schüttelte den Kopf. »Lass uns erst schauen, ob wir hier noch was finden. Wenn dein Vater tatsächlich in der Korrekturzelle sitzt, ist er nicht in Gefahr. Die Frage ist nur, warum hält Holzer ihn dort fest. Das müssen wir verdammt noch mal herausfinden.« Flavio drehte sich um. Noch einmal ließ er den Lichtstrahl der Taschenlampe über die Einrichtung des Büros gleiten.
In diesem Moment hörten sie das Geräusch einer sich öffnenden Tür. Entsetzt sah Nele Flavio an. »Holzer«, flüsterte sie. Flavio schaute sich nach einem Versteck um, dann zog er sie hinter sich her unter den großen Schreibtisch.
Nele machte sich so klein, wie es nur ging, und wagte kaum zu atmen. Wenn Holzer sie hier fand, war alles aus. Noch war niemand in Holzers Büro gekommen. Sie konnte einen schmalen Lichtschein sehen, der sich unter dem Türspalt ausbreitete. Sie hörte das Klappern von Schränken, das Rascheln von Papier.
Die Tür wurde geöffnet. Licht strömte herein, jemand durchquerte den Raum und blieb vor dem Schreibtisch stehen. Nele starrte auf die Füße. Ein Seitenblick auf Flavio zeigte ihr, dass er das Gleiche dachte wie sie. Diese Füße gehörten nicht zu Holzer. Diese Füße gehörten eindeutig einem Mann, der eine fast bodenlange Kutte trug und ausgetretene staubige Sandalen.
Theo! Was hatte Theo in Holzers Büro zu suchen? Sie hörten, wie der Mönch an den Schreibtischtüren rüttelte, aber offensichtlich waren diese abgeschlossen. Er fluchte. Kurz darauf vernahmen sie das Geräusch raschelnden Papiers. Theos Atem beschleunigte sich. Er musste was gefunden haben. Unverständliches Gemurmel füllte den Raum. Dann verstummte er plötzlich und verließ mit hastigen Schritten das Büro. Die Tür wurde wieder geschlossen, das Licht im Vorraum erlosch und die Tür zum Treppenhaus fiel ins Schloss.
»Uff. Das war knapp.« Flavio krabbelte als Erster unter dem Schreibtisch hervor und streckte sich. Nele kroch hinterher und eilte sofort zum Fenster. Sie würde erst wieder ruhig atmen können, wenn sie sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, dass Theo das Gebäude verlassen hatte. Erleichtert legte Nele ihre Stirn an die kühle Scheibe, als sie Theo zügigen Schrittes die Straße hinunterlaufen sah. Sie glühte vor Aufregung und die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Was hatte Theo bei Holzer gewollt? Wonach hatte er gesucht? Sie drehte sich um und warf einen Blick auf die Vitrine, vor der Theo stehen geblieben sein musste. Warum war sie ihnen nicht schon vorher aufgefallen?
Flavio schien das Gleiche zu denken. Vorsichtig ging er darauf zu, und ehe Nele etwas sagen konnte, hatte er das Tuch weggezogen, das den Schaukasten bedeckte.
Nele hielt die Luft an, als Flavio die Vitrine öffnete und ihr ein zusammengerolltes Schriftstück entnahm. Mit zitterndenFingern rollte er es auseinander und breitete es auf Holzers Schreibtisch aus. Er hielt die Taschenlampe so, dass auch Nele gut sehen konnte.
»Aus Luft geboren
,
im Feuer geschmolzen
,
in Erde gegossen
,
in Wasser gehärtet
.
In vier Winde getragen
von den Engeln des Herrn
,
bewahrt von den Hütern
.
Erst unter den Augen
des Evangeliums
,
im Ring vereint
,
wird sie vom Kreuz
zum Kreis der Ewigkeit.«
Flavio schob das Pergament unwirsch zur Seite. »Was für ein Gefasel von Engeln und Ewigkeit. Das bringt uns keinen Schritt weiter! Komm, lass uns von hier verschwinden.«
»Flavio, halt!« Nele zog das Schriftstück wieder zu sich und zeigte mit zitternden Fingern auf eine Stelle weit unter dem Text. »Hast du das gesehen?«, flüsterte sie. »Die Unterschrift? Gib mir mal die Lampe.« Nele kniff die Augen zusammen. »Bruder Stephanus«, las sie. »Flavio, diese Unterschrift – die Tinte – die Farbe, mit der das geschrieben ist, das ist, ich glaube, das ist Blut!«
»Blödsinn!«, erwiderte Flavio, »wie kommst du denn darauf?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ob
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