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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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sofort mein Eigentum zurück oder ich melde dich bei den Vorstehern des Spitals.« Johanna konnte nur hoffen, dass ihre Drohungen irgendeine Wirkung auf den Mann hatten, denn ein anderes Mittel, ihn zur Einsicht zu bewegen, hatte sie nicht. Aber ihre Hoffnung zerschlug sich sofort, als sie im Dämmerlicht seinen zornigen Gesichtsausdruck sah.
    Er packte sie mit beiden Händen bei den Schultern, dass sie aufschrie vor Schmerzen, und schüttelte sie. »Du willst mir drohen? Schrei nur noch ein bisschen lauter, du Vögelchen, dir werde ich den Schnabel schon stopfen. Was glaubst du wohl, wem die hohen Herren mehrGlauben schenken werden? Einem dahergelaufenen Kind mit einem todkranken Bruder oder mir, dem amtlich bestellten Brunnenwächter? Ein Fingerschnippen von mir genügt und du wirst dich mit deinem Brüderchen vor den Mauern dieses Klosters wiederfinden.« Er griff nach hinten zu der großen Schöpfkelle und Johanna duckte sich in der Annahme, er wolle sie schlagen. Stattdessen packte er ihren Becher und füllte ihn mit Wasser. Dann öffnete er die dicke Tür und schob sie nach draußen. »Jetzt lauf!« Er brachte sein Gesicht so nah an ihres, dass sie seinen schlechten Atem riechen konnte. »Und vergiss nicht, ein Wort von dir und du kannst euch schon einen Platz auf dem Friedhof suchen.«
    Entsetzt drückte Johanna den vollen Becher an sich und lief in den Gang zurück. Die Tränen rannen über ihr Gesicht. Nach einigen Metern blieb sie kurz stehen und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Wenigstens das Wasser musste sie zu Samuel bringen. Sie durfte nicht riskieren, auch nur einen Tropfen zu verschütten.

25
Wien, Gegenwart
    »Wenn dein Vater uns erwischt, bringt er uns um.« Nele zitterte am ganzen Körper. Wohl zum hundertsten Mal fragte sie sich, was sie hier eigentlich machten. Es war schon fast dunkel und die Häuser ringsum verloren ihren goldenen Schimmer mit dem letzten Rest der untergehenden Abendsonne.
    Sie schaute zu Flavio, der sich immer wieder mit der Hand durchs Haar fuhr. Eng aneinandergedrückt standen sie in einem Hauseingang mitten in Wien und warteten darauf, dass das Licht in dem Fenster gegenüber endlich erlosch.
    Als Flavio am Abend in ihr Zimmer gestürzt war und ihr eröffnet hatte, er werde nach Wien fahren, um Holzers Büro nach Beweisen zu durchsuchen, hatte sie sich nochstark und mutig gefühlt und war schnell bereit gewesen, ihn zu begleiten.
    Sie hatten bis zum Beginn der Dämmerung gewartet und dann auf Zehenspitzen das Haus verlassen. Flavio wusste, dass Giovanni am Abend noch eine Gruppe von Studenten in seinem Café bewirten musste, die über die Restaurierungsarbeiten in der Kartause fachsimpeln wollten.
    Mit dem Bus waren sie in die Innenstadt gefahren, und jetzt standen sie vor dem Haus, in dem Holzer sein Büro hatte. Flavio kannte es von diversen Botengängen und wusste, dass das Arbeitszimmer des Wiener Historikers im zweiten Stock lag. Dort brannte Licht und sie hatten beschlossen zu warten.
    Je länger sie in dem Hauseingang kauerten, desto verrückter fand Nele die Idee, in Holzers Büro einzubrechen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn der Historiker sie erwischte. Ihr war klar, dass er sie nicht einfach so davonkommen lassen würde.
    »Das Licht ist aus«, flüsterte Flavio plötzlich und Nele zuckte erschrocken zusammen.
    Kurz darauf trat Holzer aus dem Haus und eilte die Straße hinunter. Sie warteten noch ein paar Minuten, ehe sie sich aus ihrem Versteck hervorwagten.
    »Los!« Zielstrebig steuerte Flavio auf das Bürogebäude zu.
    Wie er vorausgesagt hatte, war die Haustür offen. Da sich noch andere Büros in dem Gebäude befanden, wurdeerst zu späterer Stunde abgeschlossen. Flavio stieg vor Nele eine breite Holztreppe mit kunstvoll geschmiedetem Treppengeländer nach oben.
    »Hier ist es«, flüsterte er aufgeregt. Er drückte Nele eine Taschenlampe in die Hand und bat sie, ihm zu leuchten, während er sich hastig am Schloss zu schaffen machte. Dann hörte Nele ein Klicken und Flavio drückte die Klinke herunter.
    Schnell schlüpften sie in das Büro und schlossen die Tür wieder leise hinter sich. Nele wagte kaum zu atmen. Flavio nahm ihr die Taschenlampe aus der Hand und ließ den Lichtstrahl über die Wände gleiten. Sie standen in einer Art Vorraum, hier musste der Arbeitsplatz von Holzers Sekretärin sein. Der Schreibtisch mitten im Zimmer wirkte aufgeräumt und ordentlich, keinerlei Notizen oder andere Schriftstücke waren

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