Holundermond
mehr froh werden!« Holzers Gebrüll hallte durch das Kloster.
Flavio achtete nicht darauf. Nur wenige Meter noch und er war am Brunnenhaus. Bitte lass es offen sein! Er warf sich gegen die Tür und sie sprang auf. Schnell schlüpfte er in den dunklen Raum, warf die Tür hinter sich zu undschob den Riegel von innen davor. Keuchend lehnte er seinen Kopf an die Wand und lauschte. Er hörte Holzers Schritte. Sie kamen näher, waren dann direkt vor dem Brunnenhaus und entfernten sich wieder.
Flavio konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er wartete noch einen Moment und zog dann leise den Riegel zurück und öffnete die Tür einen winzigen Spalt breit. Er lauschte. Von Holzer fehlte jede Spur. Er schob die Tür ganz auf und schlich hinaus auf den Gang. Wo mochte der Historiker stecken? Flavio spähte nach allen Seiten und wollte gerade den Rückweg antreten, als er ein Geräusch hörte, das von dem Ende des Flures kam, das er nicht einsehen konnte. Er rief sich den Grundriss des Klosters ins Gedächtnis. Dort hinten lag die Korrekturzelle. Eine Zelle, in der Mönche ihr Dasein fristen durften, die gegen irgendwelche Regeln verstoßen oder Gelübde nicht eingehalten hatten. Sie lag etwas abseits.
Suchte Holzer ihn dort? Oder hatte er aufgegeben? Flavio hörte ein Schlüsselbund klirren und beschloss, nicht länger über diese Frage nachzudenken. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zu der Tür, durch die Nele zuvor entkommen war.
Als Flavio aus dem Kloster stürmte, stieß er fast mit Nele zusammen. Er hatte vermutet, dass sie längst in der Pension war und Viviane von ihren Entdeckungen auf dem Altarbild erzählte. Dass neben Holzer auch Johanna darauf abgebildet war, hatte sie beide überrascht.
Stattdessen stand sie wie festgewachsen vor einem Grabstein und starrte darauf.
»He, was machst du da?« Er tippte Nele auf die Schulter. Doch die reagierte überhaupt nicht. »Nele? Alles in Ordnung?«
Nele zeigte stumm auf den Grabstein. Flavio musste die Augen zusammenkneifen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Die Buchstaben waren stark verwittert und einige fehlten. Er ging in die Hocke und schob ein wenig von dem Efeu zur Seite, der im Laufe der Zeit von dem Stein Besitz ergriffen hatte. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger die Buchstaben und Ziffern nach.
»Bruder Stephanus«, las er, »geboren am 21. des Martius anno domini 1653 als St…ph…Ale…an Hol…r.« Flavio legte die Stirn in Falten. Sein Zeigefinger wanderte zur nächsten Zeile. »Gest…rb… am … des Iul… …s anno domini 1…3.« Er wurde blass, stand auf und schaute Nele an.
»Wie heißt Doktor Holzer mit Vornamen?«, flüsterte Nele.
Flavio schluckte. Seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen. »Stephan.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das kann doch nicht sein. Dann wäre Holzer ja schon seit fast vierhundert Jahren tot.« Neles Gesichtsausdruck zeigte ihm, dass sie das Gleiche dachte. »Es sei denn, er hat einen Weg gefunden, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.«
»Das Tor zur Zeit, das Altarbild«, flüsterte Nele. »Erinnerst du dich daran, was Viviane gesagt hat? Ein Mönchgab dem Maler den Auftrag, ihn mit den magischen Farben zu portraitieren.«
Flavio nickte. »Holzer. Bruder Stephanus«, sagte er verächtlich. »Und weißt du noch, was Johanna erzählt hat? Von dem unbekannten Mann, der durch das Gemälde gegangen ist und dem sie einfach folgte? Das muss auch Holzer gewesen sein.« Flavio kratzte sich am Kopf. »Kein Wunder, dass der Kerl so gut in Geschichte Bescheid weiß.«
»Ganz bestimmt stiehlt er die Gegenstände, die auf dem Gemälde abgebildet sind«, murmelte Nele.
»Bleibt nur die Frage: Warum tut er das? Aber das werden wir noch herausfinden. Komm, lass uns hier verschwinden, bevor Holzer aufkreuzt.«
Es war nicht weit von der Kartause bis zu Vivianes Haus und doch erschien Nele der Weg unendlich lang.
Immer wieder vergewisserte sie sich, dass ihnen niemand folgte.
Erleichtert öffnete sie das kleine Gartentor und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.
Sie wurden bereits erwartet. Vor der Haustür stand Giovanni.
»Geht ins Haus. Sofort!«
Flavio wandte den Kopf ab, als er Neles besorgtem Blick begegnete. Das war eine Sache zwischen ihm und seinem Vater und ging sie nichts an. »Wir treffen uns später in deinem Zimmer«, raunte er ihr zu. »Ich rede mit ihm.«
»Soll ich nicht lieber dableiben?«
Flavio schüttelte stumm den Kopf. Es war schlimm genug, dass sie den Streit
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