Holzhammer 02 - Teufelshorn
Hirschwiese mitnehmen und anschließend durchs Wimbachgries absteigen. Matthias hatte zugesagt, sie an der Wimbachbrücke aufzusammeln, wenn sie von dort anrief.
Das Elektroboot fuhr an der Falkensteinerwand mit dem roten Kreuz vorbei. Kurze Zeit später wurde es langsamer, und dann stellte der Kapitän mitten auf dem See den Motor ab. Der zweite Schiffer an Bord, der Maat und Kartenabreißer, öffnete die Luke und holte seine Trompete hervor. Unter den Fahrgästen machte sich aufgeregtes Murmeln breit. Nur für die Kellner und Köche, die nach St. Bartholomä und Salet zur Arbeit fuhren, war das berühmte Echo vom Königssee eine lästige Zeitverzögerung. Für Christine eigentlich auch, denn sie machte die Fahrt bereits zum neunten Mal in diesem Jahr.
Der Bläser machte seine übliche Ansage mit den üblichen Witzen. Dann gab er die alte Weise zum besten – mit langen Pausen für das Echo. Die Gäste lauschten ergriffen; wenn man das zum ersten Mal erlebte, war es natürlich sehr romantisch. Danach ging der Trompeter herum und sammelte Trinkgeld ein. Christine beobachtete, dass er auch bei den Kellnern vorbeiging. Die würden doch nicht jeden Tag etwas geben? Nein, taten sie auch nicht. Sie machten zwar die entsprechende Handbewegung, aber kein Geld fiel von der einen Pfote in die andere. Christine musste schmunzeln, als Psychologin fand sie das schlau, denn wenn eine ganze Reihe nichts gab, würden sich auch die anderen Mitfahrer weniger bemüßigt fühlen.
Einer der Standardwitze der Echobläser war: «Geben Sie etwas mehr, ich muss ja mit dem oben am Berg teilen.» Wobei es tatsächlich schon vorgekommen war, dass ein talbekannter Witzbold sich mit einer Trompete oben hingesetzt hatte – und eine ganz andere Melodie zurückgeblasen hatte. Das «Antreiben» war in Berchtesgaden bekanntlich eine anerkannte Kunstform. Christine erinnerten Scherze auf Schiffen hingegen an eine sehr norddeutsche Tradition: Die Barkassen- und Fremdenführer im Hamburger Hafen trugen die treffende Berufsbezeichnung «He lücht».
Matthias hatte ihr mal erzählt, dass die Schiffer auf dem Königssee vor Jahren gestreikt hatten, weil man ihnen verbieten wollte, so deutlich um Trinkgeld zu werben. Daraufhin waren sie in Echostreik getreten – es wurde nicht mehr geblasen. Natürlich hatten die Schiffer gewonnen. Matthias hatte auch gesagt, dass die Königsseeschifffahrt so etwas wie eine Erbpfründe war. Die angenehmen Arbeitsplätze wurden vom Vater an den Sohn weitergegeben.
Bei der berühmten Kapelle, die auf jedem zweiten Buch über Bayern abgebildet war, stieg Christine aus und schulterte ihren Rucksack. Ohne Eile schritt sie am Seeufer entlang. Ein Fischreiher stand im seichten Wasser. Die Touristen strömten Richtung Kapelle und Biergarten. Einige Wanderer in Bergschuhen nahmen den gleichen Weg wie sie. Die Teufelshörner lagen links, weit oben in der Morgensonne. Was hatte sich dort wohl gestern zugetragen?
Eine Stunde später erreichte Christine die Weggabelung, wo sich ihr Steig von dem breiten Weg Richtung Kärlingerhaus trennte. Jetzt war sie allein. Bald stand sie an der Sigeret-Platte. Eine Seilversicherung leitete über die abfallende und ausgesetzte Platte. Erst kürzlich war hier eine Frau vor den Augen ihrer Familie in den Tod gestürzt. Warum und wieso, konnte man nur spekulieren. Hätte eine bessere Ausrüstung das Unglück verhindern können? Oder eine genauere Information über die Wegbeschaffenheit? Gar die neuerdings vom Alpenverein herausgegebene Bergwandercard? Wenn man auf dieser scheckkartengroßen Karte seine Trittsicherheit mit der Länge und dem Schwierigkeitsgrad des Weges verband, erfuhr man angeblich auf der Stelle, ob man den betreffenden Weg gehen konnte oder nicht. Als Nächstes kamen wahrscheinlich die Seilbahncard und die Einkehrcard. Mit diesen Gedanken stieg Christine weiter hinauf. Die erste Pause würde sie am Pass machen. In diesem Jahr hatte sich so viel verändert. Dabei hatte sie nicht einmal ihren Arbeitsplatz gewechselt, sie war nur 80 Kilometer weiter gezogen, von Rosenheim hierher. An ihren Exmann dachte sie nur noch selten, die Scheidung war reibungslos über die Bühne gegangen, er war aus ihrem Leben gestrichen, einfach so. Nach über zwanzig Jahren, sie hatten sich im Studium kennengelernt.
Ihre Beziehung mit Matthias hingegen funktionierte erstaunlich gut. Natürlich gab es Reibungspunkte. Aber die wurden nicht ignoriert, wie es in ihrer Ehe der Fall gewesen war, sondern
Weitere Kostenlose Bücher