Holzhammer 02 - Teufelshorn
glauben zu können. Modernst ausgerüstete Touristen standen sich buchstäblich auf den Zehen, in einer endlosen, oftmals stockenden Kette bewegten sie sich am Stahlseil dem Gipfel zu – anstehen nach dem Abenteuer. Und so manch einer merkte auf halbem Wege plötzlich, dass er doch nicht so schwindelfrei war wie gedacht. Oder ein Partner ging nur zum Gefallen des anderen mit, obwohl ihm die Sache von vornherein nicht geheuer war. Irgendwann befiel den unfreiwilligen Teilnehmer eine panische Lähmung, und er konnte keinen Schritt mehr vor oder zurück. Dann musste die Bergwacht ausrücken und den nicht mehr so Abenteuerlustigen von der Steilwand pflücken.
Glücklich, wer dann im Alpenverein und somit gegen Bergungskosten versichert war. Sonst war man mit mindestens tausend Euro dabei. Mit Hubschraubereinsatz kam leicht das Dreifache zusammen. Das wussten die Bergsteiger natürlich, und neulich hatten sogar welche versucht, diese Zeche zu prellen. Christine hatte Matthias die Geschichte vorgelesen: Nach einer Bergung von der Watzmann-Südwand hatten sie sich glatt geweigert, ihre Personalien anzugeben. Natürlich waren sie damit nicht durchgekommen.
Auf der Grünsteinhüttenterrasse waren inzwischen diverse Klettersteiggeher damit beschäftigt, sich gegenseitig bei der Schilderung ihrer Heldentaten zu übertrumpfen. Es wurde immer lauter. Daher hielten Christine und Matthias sich nicht lange auf. Sie tranken nur ein Radler und machten sich dann an den Abstieg.
Auf dem Weg nach Hinterbrand überholten sie nach und nach eine ganze Schulklasse. Die Kinder trödelten herum, sammelten Stecken auf und warfen sie in den Wald. Matthias erzählte Christine, dass eine Schule aus Kassel in der Schönau ein Schullandheim unterhielt. Die fand es jedoch viel interessanter, dass ihr Lieblingsbuddhist die ganze Zeit versuchte, nicht auf eins der zahlreichen Mitgeschöpfe zu treten, die heute ebenfalls auf Wanderschaft waren – Ameisen zum Beispiel. Dass er das nicht ostentativ, sondern im Gegenteil möglichst unauffällig machte, fand sie besonders liebenswert. Sie wollte ihm gerade einen spontanen Kuss geben, da erblickte sie eine Frau am Wegesrand, die mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Ferse rieb. Christine musste ein bisschen schmunzeln, als sie neben der Frau deren Schuhe im Gras sah: Pumps. Doch Matthias war sofort bei ihr und nestelte ein Pflaster aus seinem Rucksack.
«Ich bin bei dem Schulausflug kurzfristig als Begleitung eingesprungen», sagte die Frau, während Matthias ihre aufgescheuerte Ferse versorgte. «Und dann gleich am ersten Tag so eine Gewalttour.»
Das mit der Gewalttour war natürlich Ansichtssache. Für Christine war der Weg auf den Grünstein inzwischen nur ein Spaziergang. Allerdings wäre sie trotzdem nicht auf die Idee gekommen, die rund 500 Höhenmeter in Pumps zurückzulegen.
In diesem Moment hörte sie Matthias fragen: «Erdkunde unterrichten Sie wohl nicht?»
Die Lehrerin bekannte sich zu Deutsch und Sozialkunde. Gut verpflastert überließen sie die Lädierte ihren Schülern. Sie fuhren noch beim Konditor vorbei und holten Kuchen, den sie in der Nachmittagssonne genüsslich auf ihrem Balkon unter dem Grünstein verzehrten.
Im roten Hubschrauber saßen neben dem Piloten zwei Berchtesgadener Bergwachtler und ein Arzt, ebenfalls geländegängig, mit Bergwachtausbildung. Christoph 14 schwebte auf die Wasseralm zu. Einige Meter darüber begann der Nebel, deshalb würden die Retter von der Alm aus zu Fuß zu den Verunglückten aufsteigen müssen. Natürlich wussten alle, wen sie da retten sollten: Den Notruf hatte der Hias, Bürgermeister der Schönau, immerhin höchstpersönlich abgesetzt, und damit war die Sache klar. Er hatte zwei abgestürzte Personen gemeldet. Der eine, Holger Stranek vom Skiverband, sei von oben weder zu sehen noch zu hören. Der andere, Alois Seiler von der Jennerbahn, sei nur wenige Meter abgerutscht und inzwischen bei Bewusstsein, zu ihm bestand Rufkontakt. Aber er konnte nicht herauf und niemand zu ihm hinunter, weil es zu gefährlich war. Keiner hatte ein Seil dabei, was niemand vorzuwerfen war. Auf eine Tour, die lediglich eine kurze IIer-Stelle aufwies, nahm man nicht unbedingt ein Seil mit. Es sei denn, man hatte auswärtige Gäste im Schlepptau, aber der einzige Auswärtige auf dieser Tour war der Stranek gewesen, und bei dem hatte man wohl aufgrund seiner Tätigkeit eine gewisse Bergerfahrung vorausgesetzt.
Daher entschieden die Retter, sich aufzuteilen.
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