Holzhammer 02 - Teufelshorn
Kreuze sehr einfach gehalten, zwei Balken aus Holz, eine kleine Inschrift. Manchmal stand sogar nur eine einfache Holzstange da oder eine Steindaube. An anderen Bergen hatten sich kreative Geister verewigt. Am hohen Göll gab es ein Kreuz mit einem riesigen Bergkristall in der Mitte und auf der Schönfeldspitze gar eine sechs Meter hohe Skulptur mit einer stehenden Maria, die eine liegende Jesusfigur hielt – ziemlich anstrengend auf die Dauer. Aber das war für die Einheimischen alles in Ordnung. Kritisch wurden sie nur bei Fremdkreuzen – wenn zum Beispiel nord- oder ostdeutsche Bergfreunde sich erdreisteten, bislang kreuzlose Gipfel mit eigenen Kreationen zu verzieren.
Christine machte ein paar Fotos und setzte sich auf einen flachen Stein. Es war hier viel wärmer als unten im Tal. Auf den Gräsern lag noch Tau, aber man konnte ihm beim Trocknen fast zusehen. Die typische, wundervolle herbstliche Inversionswetterlage. Wer nicht auf Berge stieg, konnte das höchstens im Flugzeug erleben. Aber da war man eingepfercht, konnte die frische Luft nicht spüren, den Duft der Gräser nicht riechen.
Christine frühstückte. Es gab Wurst auf Semmel an Tomate und dazu Leitungswasser aus dem Trinksack. Etwas anderes sollte man in diese tütenartigen Gebilde nicht einfüllen, da man den dünnen Schlauch vom Sack zum Mundstück sonst nie wieder sauber bekam. Die Vorteile des Trinksacks gegenüber Flaschen lagen im Gewicht, in der Kapazität und vor allem darin, dass man während des Gehens trinken konnte, ohne den Rucksack abzusetzen.
Kauend blickte sie in die Runde. Recht weit entfernt pfiff ein verspätetes Murmeltier. Normalerweise gingen die Gesellen schon Ende September wieder ins Bett und verschlossen ihren Bau von innen. Sieben Monate schliefen sie zusammengekuschelt unter der Erde, unglaublich. Noch ein Pfiff. Und dann sah Christine die Unruhestifter. Es waren zwei Steinadler und ein Rabe. Der Rabe flog schimpfend hinter den beiden Adlern her. Das kam öfter vor, die Raben hatten in der Luft keine Angst vor den Adlern, sie wussten genau, dass diese ihre Beute am Boden schlugen. Natürlich hatten auch die Adler keine Angst vor Raben, aber so ein krächzendes Anhängsel, das womöglich auch noch in den Flügel hackte, war natürlich nervig – und meist zogen sich die größeren Vögel dann zurück. Der Radau warnte ja sowieso die Beutetiere, man konnte genauso gut woanders jagen gehen.
Das Trio flog quer über das Seitental, aus dem die Murmeltierpfiffe gekommen waren. Die beiden Adler flogen dicht nebeneinander. Dann plötzlich wendeten sie und drehten den Spieß um. Der Rabe machte, dass er wegkam. Trotzdem fand er noch Zeit, sich kurz auf den Rücken zu drehen. Er drehte sich mehrmals kurz um und krächzte dabei. Warum nur? Es machte überhaupt keinen Sinn. Offensichtlich wollte er einfach nur zeigen, dass er doch noch was draufhatte.
Da drehte sich einer der Adler ebenfalls kurz auf den Rücken. Und wieder zurück. Was du kannst, kann ich schon lange. Oder was sonst?
Christine beendete ihr Frühstück, sie musste weiter, wenn sie ihr Ziel rechtzeitig erreichen wollte. Bisher war der Weg einfach gewesen, aber bald würde es weglos werden, und dann würde sie jeden Schritt suchen müssen.
Holzhammer wusste schon, dass Seiler nicht mehr in der Reha war. Christine hatte es gestern Abend bei Manu erzählt. Und wo Seiler wohnte, wusste er von der Jacken-Sammelaktion. Es war eines der alten, aber bestens gepflegten Lehen im Talkessel. Lehen waren es heute natürlich nicht mehr, die Bewohner waren auch die Besitzer. Aber das Namensanhängsel war geblieben. Pfnürrlehen, Mooslehen, Krennlehen …
Da die Familien heute kleiner waren als vor dreihundert Jahren, waren in den meisten dieser alten Häuser einige Ferienzimmer eingerichtet worden. Die Gäste liebten die romantische Atmosphäre, die uralten Holzbalken, die geschnitzten Balkone, winzigen Fenster und weit überkragenden Dächer. Leider waren nur noch die wenigsten Häuser mit den originalen Holzschindeln bedeckt, die meisten hatten Blechdächer, einige auch Ziegel. Aber von unten sah man das ja ohnehin nicht.
Mit oder ohne Holzschindeln wären jedenfalls viele dieser jahrhundertealten Anwesen ohne das Zubrot aus der Vermietung kaum zu erhalten gewesen. Auch die meisten von Holzhammers Verwandten vermieteten Zimmer. Der gesamte Landkreis, vom Königssee bis hin nach Laufen, hatte nur rund hunderttausend Einwohner, aber dreieinhalb Millionen Übernachtungen
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