Home Run (German Edition)
zehn Minuten ist mir klar, dass es recht leicht ist, Agnes zu erheitern. Ich frage mich, ob ihr schon einmal der Gedanke gekommen ist, dass in so ziemlich allen Kulturkreisen sie als Gastgeberin die soziale Pflicht hat, mir etwas zu trinken anzubieten.
Ich sehe sie an. »Agnes, es gibt da ein paar Dinge, die ich mit Warren unter vier Augen besprechen muss. Du weißt schon, Familienangelegenheiten, sehr persönlich. Könntest du uns für ein paar Minuten allein lassen?«
Das gefällt ihr überhaupt nicht, doch Warren lächelt und zeigt mit dem Kopf zur Tür. Empört rauscht sie davon und schließt die Tür hinter sich. Ich greife nach der Fernbedienung, schalte den Fernseher aus und lehne mich zurück. »Rate mal, wen ich heute Morgen gesehen habe.«
»Woher soll ich das wissen?«
»Immer noch der alte Klugscheißer, stimmt’s?«
»Genau, immer noch der alte Klugscheißer.«
»Joe Castle. Ich war gestern Nachmittag und Abend in Calico Rock, und heute Morgen habe ich Joe gesehen.«
»Ich nehme an, dass du zufällig da durchgekommen bist.«
»Nein, es war kein Zufall. Ich bin seinetwegen hingefahren.«
Seine Schultern sinken ein wenig nach unten, als wäre die Luft plötzlich schwerer geworden. Ich starre ihn an, doch er hat etwas auf dem Fußboden gefunden, das ihn zu faszinieren scheint. Eine Minute vergeht, dann noch eine. »Gibt es etwas, das du mir sagen willst?«, fragt er schließlich mit einem lauten Seufzer.
Ich rücke näher und setze mich auf den Rand des Beistelltisches. Einen halben Meter von ihm entfernt wird mir klar, wie wenig Mitgefühl ich für diesen sterbenden alten Mann empfinde. In mir steckt entschieden mehr Ärger als Mitleid, doch ich habe mir geschworen, dass ich meine Gefühle ruhen lasse. »Warren, ich möchte, dass du Joe besuchst. Jetzt, bevor es zu spät ist, bevor du stirbst, bevor er stirbt. Du wirst nie wieder die Gelegenheit dazu bekommen. Fahr zu ihm, rede mit ihm, sag ihm die Wahrheit, entschuldige dich, versuch wenigstens, diese Sache abzuschließen.«
Er erstarrt, als hätte er plötzlich starke Schmerzen. Mit offenem Mund sieht er mich an, kann eine Weile nicht sprechen.
»Warren, ich meine es ernst. Seit dreißig Jahren lügst du, wenn jemand wissen will, was passiert ist, aber du und ich kennen die Wahrheit. Gib wenigstens ein einziges Mal in deinem Leben zu, dass du einen Fehler gemacht hast, und entschuldige dich. Du hast nie mit ihm reden wollen. Du hast ihn nie besucht. Du hast der Wahrheit nie ins Gesicht gesehen, ganz im Gegenteil. Du hast so lange gelogen, bis du vermutlich selbst an deine Lügen geglaubt hast. Hör mit dem Lügen auf, sag Joe die Wahrheit und sag ihm, dass es dir leidtut.«
»Du hast ganz schön Mut, dass du dich traust, mit diesem Blödsinn anzukommen«, fährt er mich an.
»Ich habe erheblich mehr Mut als du, alter Mann. Wenn du auch nur einen Funken Rückgrat hättest, würdest du ihn besuchen. Ich gehe mit. Wir machen diese Reise gemeinsam, und danach wirst du eine erheblich bessere Meinung von dir haben.«
»Bist du jetzt zur Abwechslung mal der Besserwisser?«
»Ja, jedenfalls wenn es um diese Sache geht.«
Sein blasses Gesicht hat sich vor Wut gerötet, doch er hält den Mund. Eine weitere Minute verstreicht. »Was hast du zu ihm gesagt?«
»Nichts. Wir haben nicht miteinander geredet. Ich habe ihn nur von Weitem gesehen. Dank dir hinkt er stark und braucht beim Gehen einen Stock.«
»Ich habe ihn nicht mit Absicht getroffen.«
Abwehrend hebe ich beide Hände und lache. »Nicht schon wieder. Die größte Lüge in der Geschichte des organisierten Baseballs, und was noch schlimmer ist, alle wissen, dass es eine Lüge ist, einschließlich uns beiden.«
»Verlass sofort mein Haus!«
»Das werde ich tun. In einer Minute. Sieh der Wahrheit ins Gesicht, Warren. Du wirst Weihnachten nicht mehr erleben. Die Chancen dafür stehen mehr als schlecht. Wenn du tot bist, werden die, die dich gekannt haben, nicht solche Sachen sagen wie: ›Der gute alte Warren, er hat seine Kinder so geliebt.‹ Oder: ›Der gute alte Warren, was hatte er doch für ein großes Herz.‹ Oder: ›Seine Frauen hat Warren wirklich geliebt.‹ Sie werden nichts dergleichen sagen, weil es nicht stimmt. Das Einzige, was in deinem Nachruf stehen wird – falls es überhaupt einen geben wird –, ist die Tatsache, dass du den berühmtesten Beanball in der Geschichte des Baseballs geworfen hast. Und damit eine der vielversprechendsten Karrieren aller Zeiten
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