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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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Landsman. »Wenn einer von uns Aids kriegt, glaubt doch sowieso keiner, dass es von so einer Spritze kommt.«
    Der Sergeant zieht die Hand aus der rechte Vordertasche des Toten und lässt etwa einen Dollar in Münzen auf das Pflaster rollen.
    »Vorn hat er keine Geldbörse. Ich warte, bis der Rechtsmediziner ihn umdreht. Ihr habt doch einen bestellt, oder?«
    »Müsste schon unterwegs sein«, sagt ein zweiter Streifenbeamter, der angefangen hat, einen Berichtsbogen auszufüllen. »Wie viele Kugeln hat er denn abgekriegt?«
    Landsman zeigt auf die Kopfwunde, dann hebt er eine Schulter an, um ein zerfetztes Loch in der oberen Hälfte der Lederjacke des Toten freizulegen. »Eine in den Kopf und eine in den Rücken.« Landsman bricht ab, und Pellegrini sieht, dass er wieder sein Pokerface aufsetzt. »Können auch mehr sein.«
    Der Uniformierte setzt den Stift aufs Papier.
    »Möglich …«, Landsman legt in seinen Blick alle Routine, die er aufbringen kann, »… sogar sehr gut möglich, dass zwei Kugeln ins gleiche Loch gegangen sind.«
    »Echt?«, fragt der Streifenpolizist ohne jede Ironie.
    Einfach durchgeknallt. Man gibt ihm eine Knarre, eine Marke und den Titel Sergeant, und dann lässt man ihn los auf die Straßen Baltimores, eine Stadt mit überproportional hoher Gewaltrate, Dreck und Elend. Anschließend stellt man ihn in eine Schar blau berockten Fußvolksund lässt ihn die Rolle des einsamen Possenreißers spielen. Jay Landsman, der mit dem schiefen Grinsen und den Aknenarben, der Müttern in aller Seelenruhe erzählt, es sei alles in Ordnung, sie sollten sich nicht aufregen, gegen ihren Sohn läge bloß ein Haftbefehl wegen Mordes vor. Landsman, der seine leeren Whiskyflaschen im Schreibtisch von Kollegen deponiert und auf dem Klo das Licht ausschaltet, wenn ein Vorgesetzter drauf sitzt. Landsman, der sich beschwert, irgendein Hurensohn habe seine Brieftasche geklaut, nachdem er im Präsidium gemeinsam mit dem Polizeichef im Aufzug gefahren ist. Jay Landsman, der einmal als Streifenpolizist im Southwestern District seinen Funkwagen an der Edmondson und Hilton geparkt und eine in Alufolie eingeschlagene Schachtel Quaker-Haferflocken als Radarpistole benutzt hat.
    »Diesmal kriegen Sie nur eine Verwarnung«, erklärte er den dankbaren Fahrern. »Und nicht vergessen: Waldbrandgefahr!«
    Und wenn Landsman jetzt nicht doch schmunzeln müsste, würde ein Polizeibericht mit der Nummer 88-7a37548 ins Archiv wandern, in dem steht, das Opfer sei einmal in den Kopf und zweimal in den Rücken geschossen worden, Letzteres in dieselbe Einschussstelle.
    »He, war nur ein Spaß«, sagt er schließlich. »Morgen nach der Autopsie wissen wir mehr.«
    Er wirft Pellegrini einen Blick zu.
    »Also, Phyllis, den soll mal der Rechtsmediziner umdrehen.«
    Pellegrini grinst. Sein Sergeant nennt ihn Phyllis, seit sich ein Dragoner von Gefängnisaufseherin auf Rikers Island in New York einmal geweigert hatte, einen weiblichen Häftling an die beiden männliche Detectives aus Baltimore herauszugeben, da die Vorschriften eine Polizistin als Begleitung einer Gefangenen vorsehen. Nach längerer Debatte griff Landsman seinen Kollegen, den unverkennbar italienischstämmigen Sproß einer Minenarbeiterfamilie aus Allegheny, am Arm und schob ihn nach vorn.
    »Darf ich Ihnen Phyllis Pellegrini vorstellen?«, sagte Landsman, während er den Übergabezettel für die Gefangene unterschrieb. »Sie ist meine Partnerin.«
    »Wie geht’s?«, sagte Pellegrini ungerührt.
    »Sie sind keine Frau!«, protestierte der Dragoner.
    »Aber ich war mal eine.«
    Tom Pellegrini tanzt der Widerschein des Blaulichts auf dem blassen Gesicht, als er einen Schritt näher an das tritt, was noch eine halbe Stunde zuvor ein sechsundzwanzigjähriger Dealer gewesen ist. Der Tote liegt auf dem Rücken, die Beine im Rinnstein, die Arme halb ausgestreckt, den Kopf nach Norden, nahe der Seitentür eines Eckhauses. Dunkelbraune Augen unter halb geschlossenen Lidern, erstarrt in jenem Ausdruck unbestimmter Erkenntnis, der so oft bei grade und urplötzlich Verstorbenen zu finden ist. Nicht Erschrecken, Bestürzung oder auch nur Schmerz. Allzu häufig erinnert der letzte Ausdruck eines Ermordeten an ein verwirrtes Schulkind, das gerade auf die Lösung einer simplen Gleichung gekommen ist.
    »Wenn du mich hier nicht brauchst«, sagt Pellegrini, »gehe ich mal rüber auf die andere Seite.«
    »Was gibt’s da?«
    »Tja … «
    Landsman kommt näher, und Pellegrini senkt die Stimme,

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